6. Otto Premingers Heilige Johanna (1957) und George Bernhard Shaws
Saint
Joan(1923)
Mit der Jeanne d‘Arc-Thematik befaßt Shaw sich bereits
seit 1910, die deutsche Erstaufführung des Bühnenstücks
erfolgt am 14.Oktober 1924 am Deutschen Theater in Berlin.
Die Absicht, die Shaw mit dem Aufgreifen diese Sujets verfolgt, ist nicht allein,
den englischen Imperialismus zu attackieren, sondern vielmehr, „mit Hilfe
der Massenkommunikationsmittel Theater und Film“ (25) der Verdummungskampagne,
die 1914 in das Desaster des Ersten Weltkrieges gemündet hatte, unmißverständlich
entgegenzutreten und seine Zeitgenossen aufzuklären, um künftig derartige
Katastrophen zu vermeiden.
Shaw selbst hat seine Dramatische Chronik als ein Mittel betrachtet, Denkanstöße
für die Probleme der Gegenwart zu bieten, wobei er die Auffassung vertrat,
ein Theaterstück wirke unmittelbar auf den Zuschauer und könne so
dessen Bewußtsein verändern. (26)
Shaw stellt seiner Dramatischen Chronik Heilige Johanna einen Essay voran,
der in dieser Form längst fällig war. Die nähere Untersuchung
einiger Nachschlagewerke, die zwar exakte Auskünfte über die historischen
Abläufe, von Jeannes Besuch bei Hauptmann Baudricourt, über die Befreiung
der Stadt Orléans, die darauffolgenden Kämpfe, die Krönung
Karls VII. in Reims, bis hin zu ihrer Gefangennahme in Compiègne und
der anschließenden Gerichtsverhandlung in Rouen liefern, doch im Grunde
alle samt „der melodramatischen Legende vom bösen Bischof und der
in die Falle gelockten Jungfrau“ (27) unterliegen, und damit trotz der präzisen
Angaben eine kritische Betrachtung der Jungfrau von Orléans-Geschichte
dringend erforderlich machten, sind für Shaw Anlaß zum Verfassen
seines Aufsatzes. An dieser Stelle macht Shaw überdies deutlich, daß diese
mit historischer Präzision verfaßten Werke nicht berücksichtigen, „daß die
Mode des Denkens sich wie die Mode ändert und daß es schwer, wo
nicht unmöglich für die meisten ist, anders zu denken als nach der
Mode ihrer eigenen Zeit.“ (28)
Am 28. Dezember 1923 wird Die Heilige Johanna in New York mit Winifred Lenihan
in der Hauptrolle uraufgeführt. Die erste Aufführung des Stückes
in London erfolgt am 26.März 1924 mit Sybil Thorndike in der Titelrolle.
Im Jahr 1925 erhält Shaw für seine Dramatische Chronik, welcher er – wie
bereits erwähnt - einen ausführlichen Essay voranstellte, den Nobelpreis
für Literatur. Diese Abhandlung und der dem Bühnenstück angeschlossene
Epilog beweisen die kompetente sowie kritische Auseinandersetzung mit der Jeanne
d‘Arc-Thematik und stellen darüber hinaus Bezüge zu den Epochen
nach Jeanne d‘Arc her.
In seinem Vorwort erläutert George Bernhard Shaw die „bühnenmäßigen
Grenzen historischer Darstellung“. Ein Bühnenstück enthalte
zwar alles Wissenswerte, sei jedoch gezwungen, eine Folge von Ereignissen,
die in ihrem historischen Verlauf mehrere Monate umfaßten, in etwa dreieinhalb
Stunden unterzubringen, „denn das Theater verlangt eine Einheit von Zeit
und Raum, von der die Natur in ihrer grenzenlosen Verschwendungssucht nichts
weiß.“ (29) Shaw weist den Leser an dieser Stelle nochmals daraufhin,
daß Johanna Hauptmann Robert de Baudricourt also nicht wirklich innerhalb
von fünfzehn Minuten davon überzeugt hat, sie zum Dauphin nach Chinon
zu schicken, oder daß ihr Widerruf, ihre Rückfälligkeit und
ihre darauffolgende Hinrichtung sich keineswegs innerhalb einer halben Stunde
abgespielt haben. Da für den Film ähnliche räumliche und zeitliche
Bedingungen gelten wie für das Theaterstück, halte ich die Ausführungen
Shaws hinsichtlich der Grenzen, welche die Inszenierung eines historischen
Themas mit sich bringt, auch bei der filmischen Darstellung für anwendbar.
Heilige Johanna, (1957)
Um den 1957 mit Jean Seberg in der Hauptrolle gedrehten Spielfilm zu verstehen,
ist es zunächst einmal erforderlich, die Absicht zu erkennen, die Shaw
mit seinem gleichnamigen Theaterstück verfolgte, welcher dieser Jeanne
d‘Arc-Verfilmung zugrunde liegt.
Auf den ersten Blick mag Shaws Heilige Johanna vielleicht einen eher herkömmlichen
Eindruck erwecken; überzeugt Johanna im ersten Bild Hauptmann Baudricourt
von ihrer Mission, erkennt sie im zweiten den Kronprinzen, der sich unter seine
Höflinge gemischt hatte, begeben hat; das dritte Bild zeigt „Johanna
bei der Belagerung von Orléans, als sich der Wind von Ost nach West
wendet, den die Flöße zum Angriff stromaufwärts brauchen“ (30),
so beeinträchtigt das fünfte Bild, nach der Krönung Karls VII.
das konventionelle Jeanne d‚Arc-Bild ebensowenig wie das sechste, mit
dem Prozeß in Rouen, der mit ihrem Feuertod endet. Spektakulär sind übrigens
die Umstände der Scheiterhaufen-Szene im Film: Als der Henker-Darsteller
während der Dreharbeiten den Holzstoß anzündet, kommt es zu
einer Stichflamme, die Hauptdarstellerin wendet sich erschrocken ab; der Regisseur
läßt die Szene nicht wiederholen, weil er sie so authentisch findet.
Shaw beschränkt die Darstellung von Kirche und Feudalsystem nicht allein
auf den historischen Kontext, sondern die von ihm ausgewählten Vertreter
von Adel und Klerus repräsentieren überdies die allgemeine Haltung
ihres jeweiligen Standes. Als Bischof Cauchon und der Graf von Warwick in der
vierten Szene gemeinsam beratschlagen, wie sie Johanna vernichten können, überschreiten
die Charaktere den Rahmen des geschichtlichen Zusammenhangs, indem sie Erkenntnisse
des 19. Jahrhunderts „über Bewegungen vom Mittelalter zur Neuzeit“ (31)
zur Sprache bringen, wobei sie die von Johanna ausgehende Gefahr von Adel und
Klerus in den Begriffen Protestantismus und Patriotismus auf den Punkt bringen.
Mit seinem Bühnenwerk beabsichtigt Shaw seine geschichtsphilosophische
Ansicht deutlich zu machen, wobei er sich nicht nur auf den direkten Eindruck,
den das Stück beim Zuschauer hervorruft, verläßt, sondern quasi
seine eigene Interpretation als Orientierungshilfe mit auf den Weg gibt. (32)
Im anschließenden Epilog können die epische Mittel noch stärker
ihre Wirkung entfalten. Hier treffen im Jahre 1456 Lebende, bereits Verstorbene,
sowie ein Herr aus dem 20. Jahrhundert im Schlafgemach Karls VII. aufeinander.
Die daraus resultierende unwirkliche Atmosphäre zerstört die Illusion
des Zuschauers, es handele sich bei dem Geschehen auf der Bühne um Wirklichkeit.
Die Entwicklung des Epilogs verdeutlich dem Zuschauer, daß die Geschichte
Johannas nicht mit ihrer Hinrichtung abgeschlossen ist, sondern daß alles,
wofür sie sich eingesetzt hat, erst nach ihrem Tod seine volle Wirkung
entfalten sollte. So sind die Engländer beinahe vollständig aus Frankreich
vertrieben, ihre Rehabilitation konnte erfolgreich durchgesetzt werden und
der Herr aus dem 20. Jahrhundert gibt sogar ihre bevorstehende Kanonisation
bekannt. (33)
Als Johanna jedoch den Vorschlag unterbreitet, wieder zu den Lebenden auf die
Erde zurückzukehren, suchen die Anwesenden nacheinander nach Ausflüchten,
um sich ihr entziehen zu können. „Die Erde ist immer noch nicht
bereit, ihre Heiligen zu empfangen.“ (34) Und genau hierin liegt auch der
Nutzen, den der Zuschauer des 20. Jahrhunderts aus diesem Stück ziehen
kann. Shaw appelliert damit an die Toleranz seines Publikums, dem Fortschritt
eine größere Entfaltungsmöglichkeit zu bieten. Der eigentliche
geistige Wert dieses Bühnenstücks kommt erst richtig zur Geltung, „wenn
die faktische Ebene des Illusionstheaters verlassen wird“ (35).
In Shaws Drama steht weniger der außenpolitische Konflikt zwischen England
und Frankreich im Vordergrund, sondern vielmehr die Auseinandersetzung zwischen
Altem und Neuem. Die Mächte, die an der Restauration Frankreichs interessiert
sind, verfolgen dabei keineswegs fortschrittliche Ziele. Sie fürchten
um ihre Machtpositionen, weshalb sie Johanna bei ihrer Gefangennahme ihrem
Schicksal überlassen „und wollen, wie im Epilog gezeigt wird, nicht,
daß sie auf die Erde zurückkehrt“ (36).
Die einflußreichen Mächte des Spätmittelalters, die katholische
Kirche auf der einen Seite und der Feudalismus auf der anderen Seite, werden
hier durch den Bischof von Beauvais sowie den Grafen von Warwick repräsentiert.
Vertreter der französischen Aristokratie sind zunächst einmal Hauptmann
Robert de Baudricourt, der von Shaw als wankelmütig und entschlußlos
charakterisiert wird, der jedoch aufgrund seiner gesellschaftlichen Stellung
zumindest nach außen hin sicher erscheinen muß. Daß er mit
seiner Befehlsgewalt nicht umzugehen weiß, beweisen auch die die unsinnigen
Befehle und Schikanen seinem Verwalter gegenüber. Bertrand de Poulengy,
ein Ritter im Dienste Baudricourts verfügt dagegen über mehr Weitblick. "Beide
Aristokraten wünschen die Vertreibung der Engländer aus Frankreich,
um ihre Unabhängigkeit auszuweiten. Poulengy strebt aber darüber
hinaus keine Stärkung der Zentralgewalt an, weil sie die feudalen Vorrechte
des Adels gefährden würde." (37)
In der zweiten Szene wird der König von La Trémouille, seinem Obersthofmeister,
bedroht und von Blaubart lächerlich gemacht, womit die Herrschaft des
Adels und seine Unabhängigkeit vom König verdeutlicht werden. Hierin
zeigt sich allerdings auch, daß in erster Linie die Interessen des Einzelnen
eine Rolle spielen und weniger das gemeinsame Ziel eines geeinigten französischen
Königreiches.
Die Idee, die Siegesaussichten Frankreichs schon dadurch zu erhöhen, alle
zur Verfügung stehenden Kräfte unter der Leitung des Königs
zusammenzuschließen, wird gar nicht in Betracht gezogen. Der Herzog von
Burgund, der eine Allianz mit dem König von England gegründet hat,
kommt in Shaws Bühnenstück nicht vor. In der Art, wie die Aristokraten
und ihr Gebaren dargestellt sind, wird ein essentieller Schwachpunkt Frankreichs
deutlich, die Kontroverse der Herrschenden.
Doch die Macht in Restfrankreich teilen sich nicht nur König und Aristokratie,
sondern auch die durch Bischof Cauchon vertretene Geistlichkeit. Als Johanna
ihn anschwärmt und anmerkt, es müsse ganz wunderbar sein, ein Amt
wie das seine auszuüben, amüsiert sich der gesamte Hof. Dies weist
zwar eindeutig auf den wenig geistlichen Lebenswandel des Kirchenvertreters
hin, doch scheinbar besitzt er trotzdem mehr Weitblick als seine Zeitgenossen.
In der vierten und sechsten Szene wird die Kirche durch die Gestalten Cauchon,
den Inquisitor Jean Lemaître, Martin Ladvenu, Thomas de Courcelle und
John d'Etivet verkörpert, wobei die drei zuletzt genannten Männer
alles daran setzen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Der englische Kaplan
de Stogumber, bei dem es sich um eine von Shaw erdachte Kunstfigur handelt, „die
Borniertheit, Unmenschlichkeit und Unverantwortlichkeit des britischen Imperialismus“ (38) verkörpert,
ist eifrig darauf bedacht, den Prozeß gegen Johanna voranzutreiben.
Die rückschrittlichen Kräfte Aristokratie, König, und katholische
Kirche stehen für die in der spätmittelalterlichen Epoche starken
Mächte, die sich innerhalb Frankreichs jedoch nicht einig sind und es
vorziehen, die jeweils eigene Vormachtsstellung zu verteidigen, als durch ein
gemeinsames Bündnis die Position Frankreichs zu stärken. Darin und
in der Unfähigkeit des zaghaften, phlegmatischen Königs, sowie im
Wesen des groben und unüberlegten La Trémouille und des unsicheren
Baudricourt finden sich die Ursachen für den erbärmlichen innen-
und außenpolitischen Zustand Frankreichs. (39)
Johanna verkörpert die Tatkraft des gesellschaftlichen Fortschritts
Gleich im ersten Bild taucht in Shaws Bühnenstück die Bezeichnung "bourgeoise" für
Johanna auf, obwohl sie aus einem Dorf kam. Shaw will hier wohl auf die Ähnlichkeiten
zwischen Bürgern und landbesitzenden Bauern hinweisen.
Der tiefere Sinn, weshalb Shaw Johanna als Bürgerliche klassifiziert,
besteht darin, daß sie sich, ohne sich dessen bewußt zu sein, für
Patriotismus und Protestantismus stark macht. Johannas Wunsch nach einem stabilen
Königreich, in welchem alle eine Sprache sprechenden Menschen vereint
sind, zeigt patriotische Tendenzen. Ihr Anspruch, ohne Vermittlung eines Geistlichen,
unmittelbar mit Gott zu kommunizieren, birgt protestantische Elemente in sich. „Diese
Forderungen liegen im objektiven Interesse aller nicht-adeligen und nicht-klerikalen
Schichten der Gesellschaft, also der übergroßen Mehrheit“. (40)
Johanna ist der festen Überzeugung, ihre Forderungen seien im Sinne aller
Franzosen, doch sie wird nicht gewahr, daß ihre Absichten Gefahren für
die traditionelle Kirche und den Adel mit sich bringen. Ihren Überlegungen
liegt der solidarische Wunsch, die Engländer aus ihrem Land zu vertreiben
und das französische Volk zu einen zugrunde, sie erkennt nicht, daß die
einzelnen Stände jeweils unterschiedliche Absichten verfolgen, um die
eigene Macht - notfalls auch auf Kosten anderer - zu festigen. (41)
Johannas ländliche Herkunft verleiht ihr einerseits die Fähigkeit,
die Interessen des nichtadeligen beziehungsweise nichtklerikalen Volkes zu
vertreten, doch andererseits hindert ihre Herkunft sie daran, das Gefüge
der mittelalterlichen Gesellschaft zu verstehen und mit diplomatischen Mitteln
die eigene Position zu festigen. Johannas arglose Annahme, ihre Absichten seien
im Interesse aller Beteiligten, wird sich später ebenso bitter rächen
wie die Tatsache, daß sie die Gefahr, die von ihren Widersachern ausging,
maßlos unterschätzt hat.134
Johanna wendet sich vollkommen von dem Frauenbild ab, welches die mittelalterliche
Gesellschaft Frauen zuschrieb. Ihre emanzipatorische Haltung und die Entschlossenheit,
sich für diese einzusetzen, manifestiert sich in der Art, wie sie die
Ansprüche eines vermeintlichen Verlobten in die Schranken weist. Sie erklärt
Dunois, daß sie niemals heiraten werde. (42)
Die Johanna in Shaws Bühnenstück wird als lebensfroh, mutig und kommunikationsfähig
charakterisiert. Als sie zu lebenslangem Kerker verurteilt wird, erscheint
ihr die Aussicht, auf unbestimmte Zeit ihren Peinigern ausgesetzt zu sein und
nicht zu wissen, wann sie je wieder das Sonnenlicht sehen und den Gesang der
Vögel wird hören zu können, weit dramatischer, als der Feuertodes.
Hier zeigt sich die Entschlußkraft einer starken Persönlichkeit,
die es vorzieht sich den Qualen des Feuertodes auszusetzen, als dauerhaft ihrer
Freiheit beraubt zu werden. Manifestiert sich hier gar ein Motto der Französischen
Revolution: Freiheit oder den Tod?
"
Das Gesetz der Veränderlichkeit ist das Gesetz Gottes” (43) - dieser Überschrift
aus Shaws Essay. zufolge liegt Johanna also richtig, wenn sie behauptet, ihre
Stimmen seien göttlicher Natur. An dieser Stelle verleiht Shaw den zunächst
entmythologisierten Visionen Johannas neue geheimnisvolle Kraft, indem er sie
mit seiner eigenen Weltanschauung ausstattet. Dieser Mythos kann nach Shaws
Ansicht von jedem wahrgenommen werden, doch sind nur die wenigsten in der Lage
ihn zu erkennen; die Heilige Johanna in Shaws Drama geht überhaupt nicht
davon aus, daß nur sie die Stimmen hören könne, doch fehlt
ihren Zeitgenossen wohl einfach die Fähigkeit dazu. Shaw weist in seinem
Vorwort ausdrücklich daraufhin, „daß Gottes Gesetz das Gesetz
des Wandels sei; für den Dramatiker offenbart sich der Wille Gottes in
der Geschichte, in dessen Fortschreiten. Dabei hat Shaw eine durchaus eigene
Gottesvorstellung: er ist weder nur jenseitig, noch bereits vollkommen und
unfehlbar.“ (44)
Die eigentliche Gefahr für die traditionelle Vormachtstellung von Adel
und Kirche, die von Johannas Visionen ausgeht, besteht darin, daß ihre
Ideen keineswegs isoliert sind, sondern im Grunde dem Bewußtsein einer
ganzen Volksschicht entspringen. Laut Shaw sind sie „der Motor der Weiterentwicklung,
der die Position der Kirche und des Feudaladels nachhaltig gefährden“ (45)
kann. Um die eigene Machtposition nicht zu gefährden, muß eine Verbreitung
von Johannas fatalen Ansichten unterbunden werden; die in der vierten Szene
in dem Gespräch zwischen Bischof Cauchon und dem Grafen von Warwick fallenden
Begriffe Patriotismus und Protestantismus bringen die Sache auf den Punkt. „Von
dieser eindeutigen Interessensposition aus bestimmt Cauchon auch, daß Johannas
Stimmen vom Teufel kommen müssen [..]“ (46)
Während des Dialogs mit dem Grafen von Warwick kommen die vermeintlichen
Bedenken Cauchons gegenüber Menschen wie Johanna zum Tragen. Er stellt
die rhetorische Frage, wie es sich auf die Welt auswirken würde, wenn
alle Weisheit und Erkenntnis, die bisher in den Händen der gelehrten Geistlichkeit
der Kirche lag, von jedem unwissenden Arbeiter oder Milchmädchen, die
der Teufel mit der monströsen Einbildung aufblasen kann, direkt vom Himmel
inspiriert zu werden, in die Gosse geschüttet werden könnten. Cauchon
liefert selbst die Antwort, „eine Welt des Blutes, der Verwüstung“ (47)
wäre die Folge.
Diese Argumentation Cauchon taucht immer wieder seitens der Gesellschaftsschicht
auf, die die Macht in den Händen hält; „die unteren sind zu
unwissend, um die Führung zu übernehmen, würde die Herrschaft
der jetzt regierenden abgelöst, das Chaos würde folgen“ (48).
Allerdings wird der Bischof von Shaw keineswegs so charakterisiert, als wären
seine Darlegungen eigennützig motiviert, er ist vielmehr „im historischen
Irrtum im Marxschen Sinne verhaftet. [...]“ (49) Aufgrund der Tatsache,
daß der Graf von Warwick und Cauchon nicht rein aus Eigennutz handeln,
sondern der tiefen Überzeugung sind, mit ihrer Haltung dem Gemeinwohl
zu dienen, wird zugleich ihre eigene Macht gesteigert. Würden sie nur
aus Berechnung handeln und wären sich bewußt, „daß sie
nicht die Interessen der Allgemeinheit“ (50) vertreten, wäre ihre Position
Johanna gegenüber enorm geschwächt.
Cauchon sieht eine Gefahr in Johannas Ketzerei, ihrem Protestantismus und Warwick
betrachtet ihren Patriotismus als Bedrohung für die begünstigte Position
der Aristokratie, beide vertreten die herrschenden Mächte des Mittelalters,
müssen erkennen, daß Johannas Vorstellungen keineswegs isoliert
sind, sondern ihre Ideen "in den Köpfen der einfachen Leute entstehen" (51).
"Johannas Vorstellungsform ist eine dem Mittelalter angemessene. Für
mittelalterliche Menschen hatte Gottes Wort Autorität. Shaw verknüpft
diese zeitabhängige Vorstellungsform mit Johannas Herkunft: so wird sehr
suggestiv erklärt, daß Johanna unbewußt Forderungen des gesellschaftlichen
Fortschritts für Bauern- und Bürgertum als göttliches Gesetz
vertritt und durchsetzt." (52)