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Fazit

Die Filme der 90er Jahre

Der hohe Stellenwert, welcher sich für die meisten Interpreten aus dem Verhältnis von Geschichte und Dichtung ergibt, resultiert aus dem historischen Stoff selbst. Und die Jungfrau von Orléans ist zweifellos eine historische Figur, deren Existenz durch zahlreiche Dokumente, insbesondere den Unterlagen ihrer Prozesse bestätigt wird. Sie ist folglich „weder der mythischen noch der religiösen Sphäre“86 zuzuordnen. Dieses Spezifikum der Thematik bewirkt natürlich, daß die Autoren, die sich mit ihr auseinandersetzen, stets ihr eigenes Bild von Geschichte darlegen. Ulrich Fischer und George Bernhard Shaw sind hinsichtlich der künstlerischen Umsetzung historischen Stoffes der plausibel erscheinenden Ansicht, daß es keine künstlerische Form gibt, welche die Gesamtheit eines historischen Stoffes erfassen kann, sondern der Autor ist stets gezwungen, aus dem umfangreichen Material, welches sich ihm bietet, eine Auswahl zu treffen. Anhand der Auswahl, die er vornimmt und welche Schwerpunkte er setzt, läßt sich seine persönliche Vorstellung von Geschichte erkennen. Dieses Geschichtsbild ergibt sich laut Fischer nämlich nicht allein aus den historischen Fakten, sondern Weltanschauung und Motive des Analytikers spielen hierbei eine wesentliche Rolle; „es ist eine Täuschung anzunehmen, historische Phänomene ließen sich unabhängig vom erkennenden Subjekt und vom Erkenntnisprozeß rekonstruieren."87

Ulrich Fischer schließt sich der ebenfalls einleuchtenden Auffassung Gerhard Storz‘ an, laut welcher die Jungfrau von Orléans von dem Mythos befreit werden müsse, der sich um sie gebildet hat. Denn die wahre Größe ihrer Persönlichkeit kann nur erkannt werden, solange ihre Geschichtlichkeit erhalten wird. So vermag die von ihr ausgehende dichterische Wirkung allein nur „durch die Individualität des Historischen hindurch aufzuleuchten.“88

„ Das Bild, das aus den Prozeßakten uns entgegentritt, ist persönlicher, eigentümlicher, aber auch reicher und in mehr als einer Richtung bedeutsamer als das der Dramenheldin.“89, so urteilt Storz über die romantisch idealisierte Dramenfigur Schillers.
Storz demonstriert an einigen aufschlußreichen Beispielen, daß es sich bei dem Auftreten der Jungfrau von Orléans keineswegs um ein Wunder gehandelt hat, sondern daß sie durchaus menschliche Schwächen aufweist. So machte Johanna - völlig unheilig – keinen Hehl aus ihrer Eitelkeit, der sie zuweilen unterlag. Ferner führt Storz an, „wäre ihr Erscheinen tatsächlich ein Wunder gewesen, so hätten sich menschliche Schwäche, menschlicher Unverstand, menschliche Verstrickung, alles Wichtige auch der Stunde und des Zufalls länger dem begnadeten Kinde gefügt.“90

Ihr Drängen, zur Sicherung des Friedens Paris anzugreifen und die immer stärker werdende Abneigung einiger Hofleute trug letztendlich zur Wende ihres Schicksals bei. Auch bei Stolpe finden sich Hinweise, auf ein überaus menschliches Jeanne d‘Arc-Bild, keine Spur davon, bereitwillig und gefaßt, das Martyrium auf sich zu nehmen. Unter dem Druck ihrer Richter verleugnet sie ihre Sendung, unterzeichnet das ihr vorgelegte Schreiben, ohne dessen Inhalt richtig zu verstehen, allein weil ihr dies die einzige Hoffnung zu sein scheint, um dem gefürchteten Feuertod zu entgehen.

Daß nach Auffassung Storz‘ die wirkliche Geschichte der Heiligen Johanna von keinem noch so idealistisch ausgeschmücktem Drama übertroffen werden kann, zeigt sich schon darin, daß er schreibt: „In zwei Jahren hatte alles Platz, der Glanz und das Elend. [...] Die Prozeßakten enthalten eine Passion und ein Martyrium zugleich.“91 Die Geschichte als solche bietet also im Prinzip genug Material für ein Drama.

Johanna die Jungfrau, 1993 unter der Regie von Jacques Rivette verfilmt, versucht den Lebenswegen der französischen Nationalheldin so historisch wie möglich darzustellen, die in der französischen Originalversion immer wieder eingeblendeten „Zeitzeugen“ unterstreichen diesen Authentizitätscharakter noch. Wie wir wissen, dienten dem Regisseur die Werke der französischen Historiker Régine Pernoud und George Duby, die auf den Prozeßakten basieren, als Vorlage für seine Jeanne d'Arc-Verfilmung. Mit diesem ruhigen Film, der ganz auf brutale Actionszenen oder Herzschmerz verzichtet, gelingt dem Regisseur „ein letztes Wunder: die Verwandlung vom Glück des Schauens in das Drama der schutzlosen jeder Willkür ausgesetzten Vereinsamung“92 Und auch die Hauptdarstellerin gewinnt mit ihrem französischen Temperament und ihrer Natürlichkeit schnell die Sympathien des Publikums. Im Gegensatz zu anderen Regisseuren, die beispielsweise ihre christliche oder rationale Interpretation einbringen, ist Jacques Rivette bis zum Schluß seiner Verfilmung bestrebt, das Schicksal der historischen Figur zu zeigen und zwar völlig ohne hinter Quoten herzuhetzen und sich den Erwartungen eines Massenpublikums zu beugen.

Storz schreibt über Schillers Jungfrau von Orléans-Drama: „.... jenseits von Leben und Wirklichkeit soll eine Kunstwelt erscheinen, spiegelnd, schwebend, nur mehr scheinend und deshalb frei – kurz es geht um Stil, nicht um Wahrheit.“93 Diese Vorstellung Storz‘ hinsichtlich Schillers Drama läßt sich zweifellos auch auf die Jeanne d‘Arc-Verfilmungen übertragen, doch geht es in den meisten neueren Filmen bedauerlicherweise oftmals nicht um Stil, sondern vielmehr darum, ein Massenpublikum anzusprechen.

Ähnlich wie zur Entstehung von Schillers Geschichtsdrama das historische Geschehen dem Zeitgeist entsprechend romantisiert wird, so zeigen heute die enormen Produktionskosten, die Rollenbesetzungen durch Stars sowie die hochtechnisierte Ausstattung, daß hier ein historisches Thema dem Zeitgeist angepaßt wird. Allerdings geht es heute längst nicht mehr darum, ein aufklärerisch-intellektuelles Publikum anzusprechen, sondern in erster Linie spielen kommerzielle Interessen eine wesentliche Rolle; um hohe Zuschauerquoten zu erzielen, ist den Filmemachern oftmals jedes Mittel recht.

So auch der 1999 unter der Regie von Luc Besson entstandene aufwendige Streifen, bei dem keine Kosten gescheut wurden, um ein medienverwöhntes Publikum in seinen Bann zu ziehen. Dieser Besson-Film, der die Jeanne d‘Arc-Thematik im Grunde nur als Rahmenhandlung verwendet, schockiert den Zuschauer mit zum Teil immens brutalen Szenen und seine wahnsinnig anmutende Jungfrau von Orléans, die nun wahrlich keinen Vorbildcharakter an den Tag legt, hält den Zuschauer auf Distanz.. Besonders das hysterische Kreischen und Schnaufen der Hauptdarstellerin in der deutschen Fassung wird für den Zuschauer schnell zur Nervenprobe94.

Eine spezielle Problematik stellt für die Kritiker, die Bessons Jeanne d’Arc-Verfilmung teilweise sogar als blasphemisch bezeichnen, die Vernichtung der Heiligen dar. All ihre Taten und Handlungen werden hier niederen Beweggründen, nämlich Rache und Selbstsucht unterworfen, die auf ihrer schweren seelischen Erschütterung basieren. Eine interessante historische Persönlichkeit wird in diesem Film zur hysterischen Wahnsinnigen degradiert, nur damit der Regisseur seine Vorstellung von Rationalität in die Tat umsetzen kann. Doris Kraemer ist daher zuzustimmen, wenn sie in ihrem Aufsatz schreibt, daß man sich fragen müsse, was ‚ratio‘ eigentlich sei, wenn Ereignisse, wie die Ermordung und Vergewaltigung von Jeannes Schwester, die nie stattgefunden haben, erdacht werden müssen, um eine Grundlage für eine vermeintlich rationale Erklärung zu finden.95

Einmal wird die Geschichte, das heißt in diesem Fall, das Leben der heiligen Johanna, ernst genommen dadurch, daß sie überhaupt aufgegriffen wird; „zugleich aber „unernst“ insofern, als sie behandelt wird als Kunstmotiv und Gegenstand des freien Spiels.“96 Besson nimmt die Darstellung der spätmittelalterlichen Welt keineswegs ernst, dies läßt sich an diversen Exempeln festmachen, die dem Film wohl eine humorvolle Note verleihen sollen, doch meines Erachtens eher lächerlich wirken. So beispielsweise die Szene, in welcher die Schwiegermutter des französischen Königs die Phiole mit dem Salböl nachfüllt und beiläufig mitteilt sie „vollbringe ein Wunder“97.

Erwähnt sei an dieser Stelle auch die Szene, in der ein Geschoß mit der Aufschrift „Hello“ vor den Augen der französischen Angreifer landet, was dem Ganzen einen albernen Beigeschmack gibt. An diesen Stellen des Films zeigt sich wieder einmal die Arroganz mancher Menschen des 20. Jahrhunderts gegenüber vorangegangenen Epochen.

An dieser Stelle halte ich es für angebracht, noch einmal auf eine Passage aus dem Essay George Bernhard Shaws einzugehen. Um Johannas Geschichte wirklich nachzuvollziehen, ist es erforderlich, ihr spätmittelalterliches Umfeld ebenso zu verstehen, wie ihre Persönlichkeit. Wer sich ernsthaft mit dieser Thematik auseinandersetzt und es aus angemessenem Blickwinkel betrachten will, muß berücksichtigen, welches Verhältnis der Mensch des Spätmittelalters zum katholischen Glauben und zum Feudalsystem hatte. Shaw fügt zudem hinzu, welcher Haltung des Lesers es bedarf, um nichts Wesentliches über Johanna zu erfahren, womit er wohl eine typische Meinung seiner und auch unserer Zeitgenossen angreift: „Wenn du, lieber Leser das Mittelalter mit den 'finsteren Zeitläufen’ verwechselst und die Gewohnheit hast, dich über deine Tante lustig zu machen, weil sie 'mittelalterliche Kleider’ trägt – während du jene meinst, die in den neunziger Jahren Mode waren-, und wenn du vollauf überzeugt bist, daß die Welt gewaltige Fortschritte sowohl in moralischer als auch in mechanischer Hinsicht seit den Tagen Johannas gemacht hat, wirst du nie begreifen, warum Johanna verbrannt wurde, und noch viel weniger fühlen, daß du vielleicht selbst für ihre Verbrennung gestimmt hättest, wenn du Mitglied jenes Gerichtshofes gewesen wärst, der ihr den Prozeß machte.“98

Auch bei dem Film Jeanne d‘Arc - Die Frau des Jahrtausends steht weniger die exakte historische Recherche im Vordergrund, sondern vielmehr kommerzielle Interessen und die Erzielung hoher Zuschauerquoten. Gedreht wurde der amerikanische Zweiteiler 1998 in der tschechischen Republik, „die Verwendung des Dolby-Surround-Tonverfahrens und die langen Action-Szenen sollten offensichtlich dem Kino Konkurrenz machen“.99

Dies geht vor allem aus der Kameraführung während der Action-Szenen, mit wechselnden Perspektiven und schneller Schnittführung hervor; hier zeigt sich der Einfluß der Kinotechnik seit Mitte der 80er Jahre und auch die Behandlung vermeintlich historischer Themen, wie „Sagen und Legenden aus dem Mittelalter“100, erfreut sich seit den 80er Jahren zunehmender Beliebtheit. Und so läßt sich mit dem oberflächlichen Umgang mittelalterlicher Themen ein breites Publikum ansprechen.

Die Hauptaussagen der Verfilmung von Duguay, die mit ihren für den Zuschauer optisch wahrnehmbar gemachten Erscheinungen von Jeannes Heiligen und der während des gesamten Films romantisch verschneiten Landschaft, wodurch der Film sich auf eine schmale Gratwanderung zwischen Romantik, Kitsch und Persiflage begibt, die leicht auf ein Herz-Schmerz-Niveau abzusinken droht, bestehen einerseits darin, Jeanne als junge Frau darzustellen, die sich dem traditionellen Frauenbild entgegenstellt und andererseits, sie als ein Werkzeug zu sehen, welches der französische König für seine Macht mißbraucht. Auch die abfällige Art, die der König beim Bankett Jeanne gegenüber an den Tag legt, demonstriert ihre Rolle als Spielball der Macht. Dieser zweite Punkt ist allerdings gar nicht so modern, wie wir heute vielleicht annehmen möchten, denn Professor Krumeich zu Folge war bereits im 16. Jahrhundert verstärkt die Auffassung vertreten, Jeanne d‘Arc sei von den Fürsten und Kriegsherren für deren politische Zwecke eingespannt worden.101

Diese drei Jeanne d’Arc-Verfilmungen, wie sie unterschiedlicher nicht sein können, machen deutlich, daß historische Ereignisse niemals völlig objektiv dargestellt werden können da - um es mit Shaws Worten zu sagen - „die Mode des Denkens sich wie die Mode ändert, und daß es schwer, wo nicht unmöglich für die meisten ist, anders zu denken als nach der Mode ihrer eigenen Zeit.“102 Von der jeweiligen Mentalität ihrer Zeit und ihrem persönlichen Geschichtsbild geprägt bringen die Regisseure ihre eigene Interpretation des Stoffes in die Filmproduktion ein.
Doch unabhängig davon, für welche Interpretation des Jeanne d’Arc-Stoffes sich ein Regisseur entscheidet, dieses Phänomen während des Hundertjährigen Krieges ist deshalb derart beeindruckend, so der moderne amerikanische Philosoph B. Dunham, weil es, auch wenn es unglaublich erscheinen mag, sich tatsächlich ereignet hat; „bitter deshalb, weil die Menschen damals das vernichteten, wovor sie sich hätten verneigen sollen; lehrreich deshalb, weil sie uns die Erfahrung gibt, an allem zu zweifeln, woran wir glauben – an allem, mit Ausnahme der großen Kraft der Grundideale der Menschheit.“103

 
Kerstin Klein


Quellen

86) Fischer, Seite 54 87) ebd., Seite 56
88) ebd., Seite 14
89) Storz, Seite 10 ff.
90) ebd., Seite 11
91) Stolpe, Seite 11
92) Frankfurter Rundschau
93) Storz, Seite 41
94) vgl. Fleming, Seite 5
95) vgl. Kraemer, Seite 23
96) Storz, Seite 87
97) Film Johanna von Orléans
98) Shaw, Seite 213
99) Kraemer, Seite 20
100) ebd., Seite 20
101) vgl. Krumeich, Seite 232
102) Shaw, Seite 235
103) Grigulevic, Seite 237, zitiert nach Dunham


Mai 2005



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Zitat

"Was soll das denn sein - wo du doch Schauspieler sein kannst? Da will man doch nicht Arzt werden!"

Die Reaktion der schauspielernden Eltern von Michael Verhoeven (13. Juli 1938 - 22. April 2024) auf seinen Wunsch, Medizin zu studieren - er wurde Regisseur ("o.k.", "Die weiße Rose"), Schauspieler ("Das fliegende Klassenzimmer" (1954), "Der Pauker") und Arzt

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