26.06.2019

Gefangen in asozialen bürokratischen Mühlen

Ich, Daniel Blake

Ken Loach ist der große Linke des Weltkinos. Mehr denn je zeigt er dies in dem Film "Ich, Daniel Blake", für den er viele Auszeichnungen erhielt, darunter die Goldene Palme der Filmfestspiele Cannes 2016. Sein Sozialdrama ist beinahe dokumentarisch angelegt, wenn die Titelfigur gegen die bürokratischen Windmühlen kämpft. Wehe, man wird krank – der Staat lässt einen fallen, stellt Loach klar. Sein Daniel Blake (Dave Johns), ein 59-jähriger Schreiner, der nach einem Herzinfarkt vorerst nicht mehr arbeiten darf, hat das Recht auf Krankengeld, da er immer einzahlte. Aber es wird ihm verweigert. Der Hintergrund ist: Das "Employment and Support Allowance"-Programm der britischen Regierung wird von einem privaten Unternehmen geleitet. Es möchte Profite kassieren. Leidtragende sind kranke Bürger.
Ken Loach macht es den Zuschauern nicht leicht, böse und zielgerichtet – gut so! – unterbreitet der Filmemacher den Kinogängern die Dramatik der unfreiwilligen Armut, finanziell wie in Sachen Ohnmacht gegenüber der Obrigkeit.

Dieser Film ist nichts für Porsche-Fahrer. Ihnen ist die Vorstellung der neuen Situation des krank gewordenen Daniel Blake nicht zuzumuten. Dies ist natürlich Ironie. Ihnen ist auch nicht zuzumuten, zu sehen, wie eine Frau, die zweite Hauptfigur des Films, als Alleinerziehende zweier Kinder vor Armut Hunger leidet und deswegen fast zusammenbricht, bei einer Tafel verzweifelt eine Dose öffnet und den essbaren Inhalt pur in sich hineinstopft. Das brutal asoziale Arbeitslosen- und Krankensystem Großbritanniens, das Ken Loach mit seinem langjährigen Drehbuchautor Paul Laverty anprangert, schickte Katie von London nach Newcastle, in die Stadt, in der "Ich, Daniel Blake" spielt. Besser gesagt: Katie (Hayley Squires) wurde abgeschoben. Dort treffen die junge Mutter und Daniel aufeinander. Im Jobcenter. Da sie sich in der neuen Stadt nicht auskennt, kam sie zu einem Termin zu spät. Prompt werden ihr Leistungen gestrichen. Aber Daniel, kurz zuvor ähnlich schlecht behandelt, solidarisiert sich mit ihr, versucht alles, damit sie doch noch zu ihrem Recht kommt – vergeblich. Natürlich. Später wird Katie sich prostituieren. So kommt sie wenigstens an Geld. Auch Daniel wird arm. Er verkauft seine ganzen Möbel.

Auf den ersten Blick spielt der Film nur in Großbritannien und in dessen krankem, gegen Kranke und Arme gerichteten asozialem System. Aber das Kinopublikum erkennt: Seit der Einführung der Agenda 2010 wissen auch jene Deutsche, die in die bürokratischen Windmühlen geraten, was die Obrigkeit ihnen abverlangt. Der Film hat uns viel zu sagen. Dies tut er knallhart. Der Empathie empfindende Zuschauer leidet mit.

Am Schluss des Films fallen pathetische Worte, die nicht nötig wären, der Film hat schon zur Genüge darauf hingewiesen, dass "der Staat" gegenüber armen Menschen Mist baut. Nochmals explizit die Schilderung des Grauens in einer Rede Katies ist fast zu viel des Guten. Fast. "Ich, Daniel Blake" ist in seinem dokumentarisch angelegten Stil mit allem Übel, das Daniel wie Katie widerfährt, großartig.  

Michael Dlugosch / Wertung: * * * * * (5 von 5)



Filmdaten

Ich, Daniel Blake
(I, Daniel Blake)

GB/Frankreich/Belgien 2016
Regie: Ken Loach;
Darsteller: Dave Johns (Daniel Blake), Hayley Squires (Katie), Briana Shann (Daisy), Dylan McKiernan (Dylan), Kate Rutter (Ann), Sharon Percy (Sheila), Kema Sikazwe (China), Micky McGregor (Ladendetektiv Ivan) u.a.;
Drehbuch: Paul Laverty; Produzentin: Rebecca O'Brien; Kamera: Robbie Ryan; Musik: George Fenton; Schnitt: Jonathan Morris;

Länge: 100,32 Minuten; FSK: ab 6 Jahren; Kinostart: 24. November 2016

Auszeichnungen:

Goldene Palme der Filmfestspiele Cannes 2016 (der Film setzte sich u.a. gegen "Toni Erdmann" von Maren Ade, "Julieta" von Pedro Almodóvar und "Paterson" von Jim Jarmusch durch)

und viele weitere Auszeichnungen



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Zitat

"Was soll das denn sein - wo du doch Schauspieler sein kannst? Da will man doch nicht Arzt werden!"

Die Reaktion der schauspielernden Eltern von Michael Verhoeven (13. Juli 1938 - 22. April 2024) auf seinen Wunsch, Medizin zu studieren - er wurde Regisseur ("o.k.", "Die weiße Rose"), Schauspieler ("Das fliegende Klassenzimmer" (1954), "Der Pauker") und Arzt

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