21.11.2012
Der magische Glanz der Geschichte

Tabu
- Eine Geschichte von Liebe und Schuld


Kein Film, sondern ein Phantom ist Miguel Gomes' "Tabu", eine gespenstische Komposition aus leuchtenden Schwarz-Weiß-Bildern, die den historischen Geist des Stummfilmkinos atmen und sich 118 Minuten lang mit purer kinematografischer Magie entfalten.

Tabu - Eine Geschichte von Liebe und Schuld: die alte Aurora (Laura Soveral) Ein größeres Werk der Filmgeschichte als Friedrich Wilhelm Murnaus Abenteuerfilm "Tabu" von 1931 hätte Gomes sich fast nicht aussuchen können. Dabei ist es ihm jedoch gelungen, glücklich auf alle filmhistorischen Verweisspiele zu verzichten und statt wissendem Augenzwinkern mit ironischer Eleganz und Distanz eine ganz neue Geschichte zu erzählen. Es ist die Geschichte von Aurora, einer Lissaboner Diva, die trotz ihres Alters weder den Pelzmantel noch ihren glamourösen Spleen abgelegt hat und hartnäckig ihre schwarze Haushälterin beschimpft und verdächtigt, sie mit Voodoo-Zauber zu behexen. Aurora lebt ihr eigenes Leben in ihrer eigenen Welt, starrsinnig gegen Veränderung und schweigend über ihre Erinnerungen.

Verständnis hat dafür nur ihre Nachbarin Pilar, deren katholisches Gewissen so weit geht, Aurora selbst dann aus dem Casino abzuholen, als sie dort wieder einmal ihr letztes Geld für den Bus verspielt hat. Auroras verschwiegene Geschichte entdeckt Pilar erst nach ihrem Tod, als sie auf ihren letzten Wunsch hin Gian Luca Ventura aufsucht, Auroras große Liebe und einstige Leidenschaft.

Tabu - Eine Geschichte von Liebe und Schuld: die junge Aurora (Ana Moreira), der junge Ventura (Carloto Cotta) Hier beginnt der zweite Teil des Films, der in das untergehende Kolonialreich Portugals zurückführt und mit Exotismus und ironischem Charme gefüllt Hollywoods goldene Zeiten zitiert. In Bildern von morbider Schönheit verstummt dabei alles, bis auf die dunkle Stimme von Auroras einstigem Geliebten, der ihre gemeinsame Geschichte erzählt. In dieser verlorenen Welt war Aurora das reiche Töchterchen eines Kolonialherren und gnadenlose Großwildjägerin, die neben ihrer Affäre Gian nur große Gefühle für ihren kleinen Alligator hegte.

Wie keine andere Kunst hat das Kino eine besondere Beziehung zu seiner eigenen Geschichte. Unablässig wird sie zitiert, wiederholt, wiederbelebt und verändert in Sequels, Prequels, nostalgischen Neuverfilmungen und radikalen Modernisierungsversuchen. Filmgeschichte ist eine Geistergeschichte, voller untoter Vorbilder im Schatten der Leinwand. Nirgendwo wird mehr über Zeit und Geschichte in Form von Vergangenheit und Wiederkehr nachgedacht als im Film. Nicht umsonst hat Jean Cocteau einmal gesagt, Filmen sei "dem Tod bei der Arbeit zuzusehen".

Miguel Gomes' "Tabu" ist nun wie gesagt alles andere als ein simpler Wiederbelebungsversuch und kommt ohne den lustig-banalen Retro-Kitsch aus, für den zuletzt "The Artist" einen Oscar bekommen hat.

Was fängt man mit der Geschichte an und wie lässt man daraus neue Geschichten entstehen? "Tabu" nimmt seine Kraft aus den Bildern selbst, aus der so magischen wie gespenstischen Wirkung eines betörend schönen Schwarz-Weiß, das die Patina der großen Geschichte nicht braucht, sondern nur den dunklen Glanz von Vergangenheit und Erinnerung.  

Nicolas Oxen / Wertung: * * * * (4 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Real Fiction Filmverleih

 
Filmdaten 
 
Tabu - Eine Geschichte von Liebe und Schuld (Tabu) 
 
Portugal / Deutschland / Brasilien / Frankreich 2012
Regie: Miguel Gomes;
Darsteller: Teresa Madruga (Pilar), Laura Soveral (alte Aurora), Ana Moreira (junge Aurora), Carloto Cotta (junger Ventura), Henrique Espirito Santo (alter Ventura) u.a.;
Drehbuch: Miguel Gomes, Mariana Ricardo; Produktion: Luis Urbano, Sandro Aguilar; Kamera: Rui Pocas; Ton: Vasco Pimentel; Schnitt: Telmo Churro, Miguel Gomes;

Länge: 118,04 Minuten; FSK: ohne Altersbeschränkung; schwarz-weiß; OmUdt; ein Film im Verleih von Real Fiction Filmverleih; deutscher Kinostart: 20. Dezember 2012



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Zitat

"Was soll das denn sein - wo du doch Schauspieler sein kannst? Da will man doch nicht Arzt werden!"

Die Reaktion der schauspielernden Eltern von Michael Verhoeven (13. Juli 1938 - 22. April 2024) auf seinen Wunsch, Medizin zu studieren - er wurde Regisseur ("o.k.", "Die weiße Rose"), Schauspieler ("Das fliegende Klassenzimmer" (1954), "Der Pauker") und Arzt

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