18.12.2011
Old Hollywood Revisited

The Artist


Franka Potente hat im Jahre 2006 den wagemutigen Versuch unternommen und einen mittellangen Stummfilm in die Kinos gebracht; die Kritik attestierte ihr ein durchaus gelungenes Debüt. "Der die Tollkirsche ausgräbt" ist in der Filmlandschaft insofern eine Ausnahme, als kaum mehr Filmemacher sich auf das Unterfangen eines Stummfilms einlassen. Zu sehr schielen heute Filmemacher nach den Launen und Bedürfnissen des Publikums, und zu sehr gieren die Produzenten nach der Quote.

The Artist: Jean Dujardin, Bérénice BejoDer Stummfilm ist ein Exot, ein Relikt gleichsam aus alten Zeiten. Und wie soll es auch anders sein, als dass ein wundersamer wie brillanter, Nostalgie evozierender Stummfilm aus dem Filmland par excellence, aus Frankreich die Filmherzen entzückt. Michel Hazanavicius lässt in seinem charmanten, manchmal fast zu gediegenen Film das Old Hollywood wieder auferstehen und neu, im alten pompösen Licht erstrahlen. Er führt uns gleich einer Passage noch einmal durch die Welt des zu Ende gehenden Stummfilms und des beginnenden Tonfilms, des "Talkies". Wir werden vor und hinter die Kulissen der mächtigen Studios und Sets geführt. Mit den Mitteln des Stummfilms, also mit einer Menge dramatischer wie hochtrabender und melodramatisierender klassischer Musik, Rissen im Bild, wabernden Hell-dunkel-Kontrasten und filigran gerahmten Zwischentiteln entrollt er die Geschichte des Schauspielers George Valentin (Jean Dujardin). Es ist die sattsam bekannte Story vom steilen Aufstieg und nicht minder freien Fall des Hollywood-Schauspielers, wobei hier, ähnlich wie in George Cukors Musical "A Star Is Born" mit dem parallelen Niedergang des männlichen Protagonisten sich der parallele Erfolg und Aufstieg der weiblichen Protagonistin vollzieht. Dem Kummer nicht genug ist die Frau – natürlich werden, ja müssen die beiden sich im späteren Verlauf ineinander verlieben –, die im Übrigen von Bérénice Bejo kokett gespielt wird, nicht einmal eine Schauspielerin. Nein, sie ist Statistin. Und ja, sie wird eine populäre Schauspielerin, der American Dream zeigt sich hier nolens volens in seiner vollendeten Janusköpfigkeit.

George Valentin gelingt der Übergang von der Stummfilm- zur Tonfilmära nicht so richtig. Er fühlt sich als Solitär und als missverstandener Star zusehends isoliert und sieht im aufkommenden Tonfilm einen Dämon, der die hohe Schauspielkunst und infolge die Filmkunst in toto kaputt macht. Ähnlichen Mutmaßungen und Ängste ließen in der Tat vielfach und gerade ältere Schauspieler, aber auch Regisseure unruhig werden, und wiederum manche einstigen Talente konnten diesen Turning Point kaum überwinden und rutschten in die völlige Bedeutungslosigkeit ab.

Gekränkt zieht sich Valentin ins Private und in den Alkohol zurück. Ähnlich pathetisch wie James Mason in Cukors Remake von 1954 gibt er den Wilden, Unbändigen im Grunde seiner Seele aber durchaus Verletzlichen, der sich vornimmt fortan mit einer "Leck mich am Arsch"-Attitüde durchs Leben zu gehen. Im Gegensatz zu Gloria Swanson jedoch, die in "Sunset Boulevard" als alternde, wiewohl eitle Diva ihre eigene Schauspielexistenz im Privaten weiterspinnt, erkennt Valentin seinen Absturz an.

The Artist: John Goodman u.a. Hazanavicius führt in seinem Film aber auch noch einmal jene Mechanismen vor, die dafür sorgten, dass das Hollywoodsystem letzthin über einen solch langen Zeitraum funktioniert hat und über Dekaden hinweg stilprägend die Filmwelt im (Würge)Griff hatte. Wenn der Regisseur oder der Produzent mit Zigarre und Anzug auf dem Regiestuhl sitzen und einem Dirigenten ähnlich agieren, wird man ein wenig wehmütig. Denn so barsch und manisch egozentrisch der ein oder andere war – Mayer, Cohn, die Warners, Zanuck, Selznick, Griffith, DeMille, Ford, Chaplin – so sehr spürt man, wie der Film jedem eine Herzensangelegenheit war. Mit anderen Worten: Auch hier schwebte der Geist der unangefochtenen Unterhaltungsindustrie durch die heiligen Filmhallen, gleichwohl war aber die Liebe zum Film spürbar. Sicherlich ist "The Artist" keine messerscharfe Analyse zu Hollywood wie es bei Minnelli in "Stadt der Illusionen" oder später bei Robert Altman in "The Player" der Fall ist. Aber immerhin werden auch hier die Fallstricke, die das Studiosystem bereit hielt, evident.

The Artist: Jean Dujardin, Bérénice Bejo Der Regisseur entfaltet hier die Geschichte mit den ursprünglichsten Mittel des Kinos überhaupt: mit der visionären, kraftvollen wie fantastischen und poetischen Kraft der Bilder. Und das ist ganz vorrangig die Stärke dieses Films, nämlich die Erinnerung daran, das bewegte Bild. Ohne die Redundanz von Wörtern und Dialogen werden hier die Emotionen und die zwischenmenschlichen Gemengelagen transportiert. Für den Zuschauer ist dies ein außerordentliches wie außergewöhnliches Erfahrungspotential, zumal heutzutage die Tonmeister und Sounddesigner wie durchgedrehte, oder überdrehte Kleinkinder alle Register ihres Könnens ziehen, um auch noch das aussagekräftigste Bild amplifikatorisch nachzuwürzen. Im Stummfilm ist der Fokus auf das Bild und die Gestik und die Mimik der Schauspieler und natürlich auf das Setting gerichtet. Wenn die Welt aus den Angeln gerät greift man zum Dutch Angle, einer schrägen Kameraperspektive, die Carol Reed in "Der Dritte Mann" permanent benutzt, und man wird nicht zugeballert mit einer Tonkarambolage.

Es beweist noch einmal mehr, dass Dialoge nicht zwangsläufig notwendig sind, um eine gute Geschichte zu erzählen. Zweifelsohne, Regisseure wie Woody Allen, dessen Dialoge seine Filme zu großen Teilen mittragen oder aber Robert Altman, dessen "Overlapping Voices" sein Stilmittel schlechthin ist, brauchen den Ton und die Sprache. Dennoch wird abgesehen von berechtigten Beispielen, heute im Film viel zu viel gequatscht, gequatscht, und nochmals gequatscht.

"The Artist" ist keineswegs nur als bloße schicke Reminiszenz auf den Stummfilm zu lesen. Er ist gleichermaßen als Wink, als Anstoß aufzufassen auch alte Mittel im Film zuzulassen, diese zu würdigen und ihren Effekt – darum geht es ja nicht zuletzt im Film – neu zu entdecken.  

Sven Weidner  / Wertung:  * * * * (4 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Delphi Filmverleih

 
Filmdaten 
 
The Artist (The Artist) 
 
Frankreich / Belgien 2011
Regie & Drehbuch: Michel Hazanavicius;
Darsteller: Jean Dujardin (George Valentin), Bérénice Bejo (Peppy Miller), John Goodman (Al Zimmer), James Cromwell (Clifton), Penelope Ann Miller (Doris), Missi Pyle (Constance), Ed Lauter und Malcolm McDowell (Butler), Bitsie Tulloch (Norma), Joel Murray, Beth Grant, Ken Davitian u.a.;
Produktion: Thomas Langmann, Emmanuel Montamat; Kamera: Guillaume Schiffman; Musik: Ludovic Bource;

Länge: 100,20 Minuten; FSK: ab 6 Jahren; ein Film im Verleih von Delphi Filmverleih; deutscher Kinostart: 26. Januar 2012

Auszeichnungen:

6 Golden Globe-Nominierungen
Filmfestival Cannes 2011: Jean Dujardin Bester Schauspieler



Artikel empfehlen bei:  Mr. Wong Delicious Facebook  Webnews Linkarena  Hilfe

© filmrezension.de

home
  |  regisseure/schauspieler   |  e-mail
 über uns  |  impressum  


 
 
 
 
 
Offizielle Seite zum Film
<18.12.2011>


Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

Drucken

Artikel empfehlen
Mr. Wong Delicious Facebook Webnews Linkarena 
Hilfe