5. Juli 2001

Das Dorf als Welt für sich

Die Einsamkeit der Krokodile

Folgt man dem Lockruf dieses Titels, so werden sich wohl vielfältige Vorstellungen über die Thematik dieses Films ergeben. Dass es nicht um das Sozialleben der genannten Reptilienart geht, scheint nachvollziehbar, doch die Geschichte eines Selbstmords, wie sie nun vor den Augen des Kinobesuchers aufgebaut wird, dürfte wohl ebenso wenig den Erwartungen entsprechen.

Die Einsamkeit der KrokodileJobst Oetzmann, der in diesem Film die Regie führte, schrieb auch das Drehbuch, welchem eine Romanvorlage Dirk Kurbjuweits zugrunde liegt. Thema ist der Selbstmord des Metzgersohns Günther (Thomas Schmauser), dessen Tod das Interesse seines Vetters Elias (Janek Rieke), eines angehenden Journalisten, weckt und diesen an den Ort des Geschehens, einem kleinen ostwestfälischen Dorf, ruft. Im Wechsel schildert der Film die investigative Arbeit Elias' und in der ständigen Einflechtung von Rückblenden das Leben seines Vetters von dessen Geburt bis zum Tod. Bedeutend erscheinen die Parallelen zwischen Günther und Elias, welche sich im Laufe der Darstellung immer deutlicher abzeichnen. Günther, der als einziges Kind seiner Eltern, einem Metzgerehepaar, stark isoliert aufgezogen wird, entdeckt sehr früh seine Neigung zu Musik und Literatur. Doch kann ihm dies nur eine vorübergehende Zuflucht sein, denn die Enge in seiner Familie und der Dorfgemeinschaft erlaubt keine Abweichung von gegebenen Normen und Verhaltensmustern. Elias leidet unter mangelndem Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen, was zusätzlich durch eine Sprachstörung verstärkt wird. Seine ohnehin nicht gerne gesehenen Ermittlungen im Dorf werden für ihn zum Prüfstein seiner Persönlichkeit: Die Ermittlung der Vorkommnisse um den Tod seines Vetters setzt seine persönliche Emanzipation voraus, ebenso wie die sich langsam entwickelnde Beziehung zu Heike (Julia Jäger), der Wirtin des Dorfgasthauses.

Formal gesehen bietet der Film nichts wirklich Aufsehenerregendes: Er beginnt in der Gegenwart (mit der Ankunft von Elias) und endet auch dort, ihn als veränderten Menschen zurücklassend. Die regelmäßige Einflechtung von Rückblenden, die in den sanften, epischen Erzählfluss eingebunden sind, stellt keine sonderlichen Anforderungen an die Aufmerksamkeit des Zuschauers und gestattet die vollkommene Hinwendung zu der eigentlichen Bildsprache.

Die Einsamkeit der KrokodileNeben der Schilderung der Entwicklung beider Protagonisten im Feld der unzerbrechbaren dörflichen Enge gibt es eine Reihe zusätzlicher Themen, die sich mehr oder weniger im Einklang mit der gegebenen Handlung verstehen lassen. So wird häufig die schwere, lähmende Stille, die so manchem Gespräch anlastet, durch sich urplötzlich erhebendes Grollen von Kampfflugzeugen durchfahren. Dieses Grollen, in der Darstellung Günthers eher untergeordnet, erhebt sich zum Begleitmerkmal der Entwicklung Elias, da es ihm auf dem schweren Weg zum Ausbruch aus seinem inneren Gefängnis in die Freiheit und in die Beziehung zu Heike begleitet. Auch ist es Merkmal der Konfrontation von Vergangenheit und Gegenwart, was gegen Ende des Films durch die sich dicht über Elias Kopf kreuzenden Kampfflugzeuge angedeutet wird.

Die Geschichte zweier Charaktere, von denen sich der eine, durch den plötzlichen Tod des anderen mit einer neuen Situation und Aufgabe konfrontiert, in einen Wandlungsprozess begibt, reift und zuletzt die Hemmnisse des eigenen Lebens überwindet, ist alt. Auch die Schilderung des hermetischen Charakters von Dorfgemeinschaften ist nicht unbedingt eine neue Erscheinung. Aber was ist dann das Besondere am Inhalt dieses Films? Da wäre die Gestalt Günthers zu nennen, das den Dörflern unerklärbare Phänomen, die, vom Willen der Eltern gebrochen, immer wieder neue Wege sucht, ihrer Umgebung zu entfliehen. Doch nicht einmal die kurze Liebe zu der farbigen Amerikanerin Mary (interessant: Dynelle Rhodes) kann ihm helfen, sich aus der Umklammerung seiner Familie zu reißen. Erhebende Erlebnisse gibt es selten. Als feinsinnigen Einschub kann man die Episode von der Aufsetzung eines Statuts zur würdevollen Behandlung und Befreiung der Schweine genießen, an denen der Humanismus, wie Günther schmerzlich erkennt, vollkommen versagt hat. Als erste Aktion wird ein Schwein in einem Käfig auf Rädern hinter einem Moped über das Land geschleppt. Die Befreiung des Tieres steht für die Befreiung, die Günther für sich selbst nicht erreichen kann. Das Schwein, kaum fähig, sich im Käfig zu wenden, und doch ein Stück Freiheit erfahrend, spielt auf die kurzen Momente des (meist nur geistigen) Ausbruchs und Glücks in Günthers Leben an. Doch was als schönes Sinnbild beginnt, wird durch den komischen Effekt des Sturzes mit dem Moped und dem entweichenden Schwein zerstört. Lediglich den Stellenwert eines Klischees besitzt später die Befreiung der Schweine durch Elias in der Gegenwartshandlung, welche den Ausbruch aus der alten Verschlossenheit in ein neues Leben symbolisiert.

Die Einsamkeit der KrokodileAuch wenn Thomas Schmauser, der neben Filmauftritten übrigens ein starkes Engagement im Theaterbereich zeigt, die Figur Günthers sehr eindringlich spielt und sich neben den Gestalten Elias' oder Marys interessante Charaktere, wie u.a. die Eltern Günthers, finden (die eindrucksvoll die Einfachheit, die unreflektierte Besitznahme und das tiefe Unverständnis für ihren Sohn darstellen), so entsprechen die meisten Charaktere Stereotypen. So beispielsweise die Altersgenossen Günthers, die, ebenso wie sie einst ihn zu Schulzeiten schikanierten, auch Elias schon am ersten Abend seines Aufenthalts ein unangenehmes Willkommen bieten. Doch versprühen sie einfach zu viel Boshaftigkeit, Stumpfsinn und Häme, was den Zuschauer nur all zu leicht in die Solidarität mit den Außenseitern treiben soll. Ebenso erscheint das gehäuft eingeschobene "ya know" Marys, was sie anscheinend als echte Amerikanerin qualifizieren soll, recht billig. Aus seinem Klischee- Pool bricht Oetzmann dann auch nicht wirklich aus, wenn er die hübsche Wirtin als Latex- Fetischistin enttarnt (was eigentlich auch ein nettes Sinnbild hätte werden können).

Die richtige Mischung macht's und könnte auch in diesem Film über so manches Defizit hinwegsehen lassen. Doch weit gefehlt! So wird hier ein fader Landschaftsteppich ausgebreitet, der nicht viel zu sagen oder zu bewirken vermag. Passend hierzu beschert die Kameraperspektive und -führung dem Auge weder besondere Erlebnisse, noch verlangt sie wirkliche Aufmerksamkeit. Im klassischen Sinne unterstützt sie ungebrochen die ausgebreiteten Situationen. (beispielsweise wird das dunkle Hotelzimmer Elias von unten nach oben gefilmt, erhält mit dem gewaltig wirkenden, im Vordergrund thronendem Bett eine beklemmende Atmosphäre). Ebenso geschmeidig heftet sich die Filmmusik den einzelnen Momenten an und entfaltet kaum mehr Wirkung als der musikalische Beischmuck, der so manches rührselige Hollywood-Drama ziert (Allerdings ein musikalischer Lichtblick ergibt sich: Die Bach`sche Violinsonate, die Günther im Gefängnis des Schlachthauses fiedelt, ein Zeichen tiefer Einsamkeit und Vergeistigung, zugleich der ungeheuren Vielfalt des Verborgenen, erklingt und verschallt - leider viel zu rasch: Ein Opfer für die Darstellung einer Übergangsszene).

Die Einsamkeit der KrokodileWas ein interessantes Charakterbildnis oder Gesellschaftsporträt hätte werden können, räumt einem unbestimmten, oft der Oberfläche verhafteten Darstellungsversuch das Feld. Erzähltechnik, Bildeinstellungen und musikalische Ausgestaltung passen vollkommen zum Grundkonzept des Films: Zumeist ruhigem Plätschern ohne subversive Elemente. Um die Eindimensionalität und Wirkungslosigkeit seines ungemeißelten Realismus zu verdecken, greift Oetzmann gelegentlich zu skurrilen Einschüben (Schlachthaus-Szenen, Latex-Fetischismus) und symbolträchtigen Bildern (Befreiung der Schweine).
Schade, denn mit ein wenig mehr konzeptueller Ausgewogenheit und wirklicher Experimentierfreudigkeit hätten einige der gelungenen, von fähigen Darstellern getragenen Szenen eine viel größere Bedeutung gehabt.  

Jörg Machill / Wertung: * * * (3 von 5)

Quelle der Fotos: Offizielle Seite zum Film (nicht mehr existent)


Filmdaten

Die Einsamkeit der Krokodile


Deutschland 2000;
Regie & Drehbuch: Jobst Oetzmann; Kamera: Hanno Lentz; Schnitt: Christel Suckow; Produzenten: Molly von Fürstenberg, Harald Kügler;
Darsteller: Janek Rieke (Elias), Thomas Schmauser (Günther), Julia Jäger (Heike), Dynelle Rhodes (Mary), Rosemarie Fendel (Frau Sperl), Ernst Stötzner (Helmut), Renate Krößner (Friede), Arndt Schwering-Sohnrey (Roland), Oliver Bröcker (J. Pellmann), Josef Heynert (F. Rottau), Marc Prätsch (M. Biesen), Edgar Bölke (Prof. Georgsmeier), Hans-Michael Rehberg (Dr. Wiesmann), Udo Kroschwald (Bauer) u.a.;

ein Film im Verleih von Prokino (Filmwelt), Länge: 96 min, FSK: ab 12 Jahren



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"Die erste Frage war immer, ob ich aus dem Osten oder Westen bin. Hätte man auch googeln können."

Regisseur Wolfgang Becker (22. Juni 1954 - 12. Dezember 2024), Regisseur von "Good Bye, Lenin!", über Interviews zum Film

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