10. März 2005
Das neue Spanien entdeckt die Selbstbestimmung
Das Meer in mir
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Der 10. März 2005, der Tag des deutschen Kinostarts von "Das Meer in mir", wurde zufällig zu einem Tag, an dem sich der Deutsche Bundestag mit der sogenannten Patientenverfügung Sterbenskranker in Bezug auf den erbetenen Stopp lebensverlängernder Maßnahmen befasste. Und es war ein Tag jener Monate, in dem das alte Dogma, auch ein schwer erkrankter Papst habe die Katholische Kirche bis an sein Lebensende zu führen, mehr denn je in Frage gestellt wurde. Und ein Tag unter vielen, an denen in Deutschland stets aufs Neue die Alterung der Gesellschaft und die damit verbundenen Kosten für Pflegefälle beklagt werden. Machtausübung mindestens verbaler Art gegen die Machtlosigkeit einer malade gewordenen Gesellschaft. Debatten, die stattfinden, weil vorerst noch gesunde Menschen glauben, mitreden zu können, glauben, genormte Verhaltensweisen anderen aufoktroyieren zu müssen. Das individuelle Leid verbleibt in Theorie.
Was aber, wenn eine Person wegen der Erkrankung und den Leiden darunter gar Selbstmord begehen möchte; dies allerdings nicht selbst durchführen kann, denn die Krankheit erzwänge dazu die juristisch verbotene Mitwirkung anderer? Noch gut in Erinnerung ist der Fall der unheilbar kranken Diane Pretty. Im April 2002 kämpfte sie um das Recht ihres Gatten Brian, ihr Leben zu beenden. Der Europäische Gerichtshof verbot dem Ehepaar die Sterbehilfe. Pretty starb kurz darauf an den Folgen der Krankheit. Offiziell eines "normalen" Todes. Wer weiß - vielleicht hatte das sich liebende Ehepaar einen diskreten Weg gefunden, den letzten Wunsch Diane Prettys zu erfüllen. Wenn dem so wäre: Wozu die Heimlichtuerei? Worum geht es?
Alejandro Amenábars Melodram basiert auf diesem authentischen Fall. "Das Meer in mir" zeigt seine Hauptfigur im bewegenden Vorher-Nachher-Kontrast: Der junge, schöne, braungebrannte Ramón Sampedro, der das Meer liebt und die Untiefe einer Klippe unterschätzt. Der alt, grau, kahl gewordene Ramón Sampedro, der im durchgeschwitzten Bett liegt. Nur den Kopf bewegen kann. Alles andere gehorcht ihm seit dem Unglück nicht mehr. 27 Jahre ist das her. 27 Jahre des scheinbaren Dahinvegetierens. Unterstützt allerdings durch seine ihn pflegende Familie. Und unterstützt aus sich selbst heraus. Zu Puccini-Klängen erträumt er sich, was allen Menschen unmöglich ist: fliegen zu können. Über die Landschaft zurück ans Meer. Neuerdings erweitert er die Sinnlichkeit dieser fiktiven Flüge: Um Julia, die ihn am Meer erwartet. Sie ist in der Realität seine Anwältin, die für ihn vor Gericht die vergeblichen Prozesse, sterben zu dürfen, ausfechtet; gleichzeitig eine Frau, die ihrerseits sukzessive die Gewissheit erlangt, dass sich ihrer eine unheilbare Krankheit bemächtigt.
"Das Meer in mir" hat sämtliche denkbaren Filmpreise erhalten. Neben dem Silbernen Löwen von Venedig für Amenábar und Bardem und dem Europäischen Filmpreis ebenfalls für beide sind es zudem die wichtigsten US-Auszeichnungen Golden Globe und Academy Award, der Oscar, jeweils als Bester fremdsprachiger Film. In der Quantität kann man diese Würdigung allerdings für übertrieben halten: Javier Bardems Mimik als gelähmter Ramón wirkt manieriert, die Figur Rosa (Lola Dueñas), die in der Nächstenliebe zu Ramón Erfüllung zu finden behauptet, ist überzeichnet. Aber gerade in jener Rosa genauso wie in der Beziehung Ramón zu Julia hält der Regisseur seine Intention fest, nicht nur das Bild eines neuen spanischen Selbst-Bewusstseins zeichnen zu wollen. Es geht ihm auch um eine neue Abbildung der Liebe. Der Liebe, die von Verboten jeder Art erstickt werden soll. Der echten Liebe, nicht der empathielosen vorgeblichen Nächstenliebe aller Moralprediger. Und doch gilt, dass Amenábar der Katholischen Kirche einen gewissen Respekt zollt. Ausgesprochen im ebenso einem körperlichen Gebrechen unterlegenen Bischof. Der Respekt ist verbunden mit dem Respekt vor der Freiheit des Einzelnen. Wer angesichts seiner Leiden sterben möchte, dem sei es gestattet, so Amenábar. Wer dennoch, wie Papst Johannes Paul II., um sein Weiterleben kämpft, so sei auch dieser Wunsch in adäquater Form zu respektieren. Nach Amenábar lebe die freie Selbstbestimmung über das eigene Leben.
Michael Dlugosch
/ Wertung:
* * * *
(4 von 5)
Filmdaten Das Meer in mir (Mar Adentro) Titel für den englischsprachigen Markt: The Sea inside Spanien 2004 Regie: Alejandro Amenábar ("Virtual Nightmare - Open your Eyes", "The Others"); Drehbuch: Alejandro Amenábar, Mateo Gil; Produktion: Fernando Bovaira, Alejandro Amenábar; Kamera: Javier Aguirresarobe; Musik: Alejandro Amenábar in Zusammenarbeit mit Carlos Núñez; Darsteller: Javier Bardem (Ramón Sampedro), Belén Rueda (Julia), Lola Dueñas (Rosa), Mabel Rivera (Manuela), Celso Bugallo (José), Clara Segura (Gené), Joan Dalmau (Joaquín), Alberto Jiménez (Germán), Tamar Novas (Javi), Francesc Garrido (Marc), José Mª Pou (Pater Francisco), Alberto Amarilla (Bruder Andrés) u.a.; Länge: 126 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; deutscher Kinostart: 10. März 2005
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