30.04.2015
Eintauchen erlaubt

Victoria (2015)


Schon mit dem preisgekrönten "Birdman" wurde eine neue, den Film an sich auf den Kopf stellende Technik entwickelt, der sich auch dieser Streifen bedient. Sie hat noch keinen Namen, daher wird sie hier erst mal "Immersion" genannt – es ist eine Technik des Eintauchens in die Filmhandlung, die den Zuschauer so direkt es nur geht in das Geschehen hineinziehen will. Zwar bleibt er weiterhin ein passiver Zuschauer, aber es wird der optische und sensorische Eindruck vermittelt, er wäre mitten im Geschehen dabei.

Victoria (2015) Wenn bei Regisseur Iñárritu die schwindelerregende Kameraführung durch die engen Flure eines kleinen Broadway-Theaters führt, immer dicht an den Schauspielern dran, die Schnitte minimal, so führt "Victoria" uns einen Schritt weiter: Es gibt keine Schnitte, die Handlung ist aus einem Guss, die Kamera klebt sich wie eine Klette an die Darsteller ran und lässt sie unbarmherzigerweise nie los. Der Zuschauer – die Klette selbst – ist auf Gedeih und Verderb mit dabei, er wird eingetaucht in das Geschehen, ist Mitbeobachter und hier auch so gut wie Mittäter. Die Filmpersonen sind einem fast zu nahe, vor allem, weil man nicht bei allen Geschehen mit dabei sein will.

Einige Techniken erinnern an die Gesetze der dänischen "Dogma 95"-Gruppe, die hier zum Teil angewandt werden (Originalschauplätze, keine extra Requisiten, subjektive Kamera, keine Spezialeffekte, keine zeitliche Verfremdung). Das Filmgeschehen erhält etwas von der Qualität des Theaters, weil die Handlung so lange dauert wie der Film. Es wird auf künstliche Beleuchtung verzichtet, nur manchmal wird auf effektive Art und Weise Musik unterlegt, die die Unterhaltung der Filmcharaktere unhörbar macht und zu einer traumähnlichen Qualität führt.

Victoria (2015) Beobachtet wird eine Gruppe von vier aufmüpfigen "echten" Berliner Jungs, auf der Suche nach etwas Aufregendem, seiltanzend die Grenze des Legalen durchbrechend. Zu ihnen gesellt sich eine junge vom Leben enttäuschte gescheiterte Pianistin aus Madrid, Victoria. Sie hat ihre Kindheit und Jugend dem Klavierüben geopfert, nun will sie auch auf das Hochseil, etwas erleben, sich in Gefahr begeben. Victoria (Laia Costa) ist eine schlecht bezahlte Cafékellnerin; am Ende einer durchtanzten Clubnacht lernt sie die vier Aufsässigen Sonne (Frederick Lau), Boxer (Franz Rogowski), Blinker (Burak Yigit) und Fuß (Max Mauff) kennen. Sie befreunden sich, Victoria flirtet mit Sonne, sie können nicht voneinander loslassen, und begeben sich zusammen in den Strudel einer krummen Sache. Nicht lange nachdenkend, als die Grenze zwischen Gut und Böse überschritten wird. Aber immer zueinander haltend, auch wenn das emotionale Band eher wie ein stark überdehntes Gummi wirkt, das jeden Moment platzen könnte.

Klar erkennbar, den Film nachteilig beeinflussend, sind einige Regieangaben – die jungen Menschen müssen immer reden, die Redepausen werden kurz gehalten, sie müssen immer handeln, immer spielen, denn der "Big Brother"-Zuschauer beobachtet mit. Zum Teil ist die schauspielerische Darbietung übertrieben, die Technik fehlerhaft (die Handbewegungen Victorias über dem Klavier haben nichts mit der Melodie zu tun, die wahrscheinlich zeitgleich von einer echten Pianistin eingespielt wird), und der Film braucht lange, bis er in die Gänge kommt. Die gewählte Handlung ist in der zweiten Hälfte sehr dramatisch, was die Sache natürlich belebt, aber man fragt sich hinterher, ob ohne die Dramatik überhaupt ein Film daraus geworden wäre. Ob sich daher diese Technik der Immersion für eine unspektakulärere Handlung überhaupt eignet.

Anzuerkennen ist natürlich eben diese schauspielerische Leistung – anders als die vier Jungs ist die Darstellerin von Victoria – abgesehen von Sekundenlängen – über zwei Stunden im Bild und muss an ihre künstlerische und physische Grenze gehen.

Wer also zeitweise gewillt ist, in die Welt von aufmüpfigen Mittzwanzigern einzutauchen, Bier trinkend, Zigaretten rauchend, die Nacht zum Tag machend, sich vom Bösen verführen lassend, der wird den Film auch gut finden.

Schauspieler und Regisseur Sebastian Schipper erklärte in einem "Zeit"-Interview, dass der Film stark improvisiert ist und es drei ganze Durchgänge desselben gibt, die sich das Team ansah und von Take zu Take verbesserte. Auch wenn "Victoria" "nur" zum Aufmischen alter Strukturen dient, so hat er schon dadurch einen wichtigen Beitrag zur Belebung des Kinos geleistet.

Schon im Vorfeld der Berlinale-Preisverleihung 2015 erhielt "Victoria" den Preis der Gilde Deutscher Filmkunsttheater und den Leserpreis der "Berliner Morgenpost". Kurz darauf erhielt er den Silbernen Bären für eine herausragende künstlerische Leistung in der Kategorie Kamera.  

Hilde Ottschofski / Wertung: * * (2 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Senator

 
Filmdaten 
 
Victoria (2015)  
 
Deutschland 2015
Regie: Sebastian Schipper;
Darsteller: Laia Costa (Victoria), Frederick Lau (Sonne), Franz Rogowski (Boxer), Burak Yigit (Blinker), Max Mauff (Fuß), André Hennicke (Andi) u.a.;
Drehbuch: Olivia Neergaard-Holm, Sebastian Schipper, Eike Frederik Schulz; Produzenten: Catherine Baikousis, Christiane Dressler, Jan Dressler, David Keitsch, Anatol Nitschke, Sebastian Schipper; Kamera: Sturla Brandth Grøvlen; Musik: Nils Frahm;

Länge: 138,40 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; ein Film im Verleih der Senator Film Verleih GmbH; deutscher Kinostart: 11.Juni 2015

Auszeichnungen:

65. Berlinale 2015: Silberner Bär für eine Herausragende Künstlerische Leistung: für die Kameraarbeit von Sturla Brandth Grøvlen

Deutscher Filmpreis 2015:
sechs Lolas, u.a. für den Besten Film



Artikel empfehlen bei:  Mr. Wong Delicious Facebook  Webnews Linkarena  Hilfe

© filmrezension.de

home
  |  regisseure/schauspieler   |  e-mail
 über uns  |  impressum  


 
 
 
 
 
Der Film im Katalog der Berlinale 2015
<30.04.2015>


Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

Drucken

Artikel empfehlen
Mr. Wong Delicious Facebook Webnews Linkarena 
Hilfe