25.01.2025

Anpassung und Rebellion

Die Einsamkeit des Langstreckenläufers

Frankreich hatte Anfang der 1960er Jahre die "Nouvelle Vague". Bekanntester Film war "Außer Atem" (1960) von Jean-Luc Godard. Großbritannien stand dem nicht nach mit ihrer "British New Wave". Meist im Vordergrund in den Filmen: ein männlicher Rebell. So war es in "Samstagnacht bis Sonntagmorgen" (1960) von Regisseur Karel Reisz, so war es in "Die Einsamkeit des Langstreckenläufers" (1962) von Tony Richardson. Auf der Vorlage und dem Drehbuch von Alan Sillitoe basierend, geht es um Anpassung und Rebellion, reiche Oberschicht und Armut im Kontrast. Kritisiert wird im Film die Obrigkeit, die der Unterschicht das Leben schwer macht. Ein junger Mann, Colin Smith (Tom Courtenay) gerät nach einem Diebstahl in eine Erziehungsanstalt. Deren Chef (Michael Redgrave) entdeckt die läuferischen Fähigkeiten des Heranwachsenden und will das ausnutzen. Für sich und sein Prestige, nicht für Colin.

"Laufen war schon immer eine große Sache in unserer Familie. Vor allem das Weglaufen vor der Polizei. Es ist schwer zu verstehen, aber ich glaube, man muss immer laufen. Das ganze Leben lang. Und ob dabei das Ende das Ziel oder das Ziel das Ende ist, wer weiß das. Die Masse schreit, bis sie nicht mehr kann. Und da beginnt die Einsamkeit des Langstreckenläufers."

Aus dem Off spricht Colin am Anfang des Films diese Worte zum Zuschauer. Während er alleine läuft. Er kann laufen, er hat Ausdauer. Das "Weglaufen vor der Polizei" wird im Film allerdings nur einmal vorkommen, das Laufen als "große Sache in der Familie" zeigt der Film sonst nicht - ein Manko, weil damit der Satz falsch ist.

Der Film nennt erst allmählich die Fakten aus dem Leben Colins und die Hintergründe, weshalb er in eine Erziehungsanstalt muss: Mit Kumpel Mike nutzte er das offene Fenster einer Bäckerei, um eine Geldkassette mitzunehmen. In der Anstalt werden die Straffälligen zunächst statt mit Namen mit Nummern versehen - eventuell eine Anspielung auf KZs. Der Leiter und seine Mitarbeiter sollen mit "Sir" angeredet werden. Das nutzt Colin aus, eine gute Idee von Drehbuchautor Sillitoe: Nach dem Nachnamen gefragt, antwortet Colin mit "Sir, Smith". Eine Umkehrung der Verhältnisse strebt Sillitoe damit an.

Der Film springt zwischen den Zeiten hin und her, Colin erinnert sich an noch nicht lange zurückliegende Vorkommnisse seines Lebens: den Tod des Vaters, die Verschwendung der Lebensversicherung des Arbeitgebers des Vaters durch die Familie, Tage am Meer mit zwei Frauen, die in das Leben von Colin und Mike traten. Hierbei bringt der Film Schlagworte wie "Es ist nicht abzusehen, warum die Einen alles haben und die Anderen nichts" und "Der Arbeiter sollte wirklich mehr am Gewinn beteiligt werden." Die Zitate sind in den Raum geworfen und ziehen beim Zuschauer nicht, weil noch die genannte Verschwendung von 500 Pfund der Lebensversicherung im Gedanken des Zuschauers vorkommt. Diese Verschwendung ist extrem übertrieben dargestellt. Im Kontrast dazu das nächste Schlagwort: Für einen "Hungerlohn" hätte der Vater gearbeitet gehabt.

Der Film erzählt nicht, sondern es werden Zitate aneinandergereiht. Weitere sind, nachdem das Lauftalent entdeckt ist, "Es geht nicht um ihn, sondern um den Pokal" und "Es fehlt nur noch, dass er beim Alten am Tisch sitzt". Immerhin ist das Ende von Richardsons Film konsequent, Colin wird reagieren, er wird seine Schlüsse daraus ziehen, was zu seinem Nachteil wird. Aber er will sich nicht unterbuttern lassen. Der Groll des jungen Rebellen ist im Film spürbar.  

Michael Dlugosch / Wertung: * * * (3 von 5)



Filmdaten

Die Einsamkeit des Langstreckenläufers
(The Loneliness of the Long Distance Runner)

GB 1962
Regie & Produktion: Tony Richardson;
Darsteller: Michael Redgrave (Leiter der Erziehungsanstalt), Tom Courtenay (Colin Smith), Avis Bunnage (Mrs. Smith), Alec McCowen (Mr. Brown), James Bolam (Mike), Joe Robinson (Mr. Roach), Dervis Ward (Detective), Topsy Jane (Audrey), Julia Foster (Gladys), James Fox (Laufgegner), Edward Fox, Frank Finlay u.a.;
Drehbuch: Alan Sillitoe nach seiner Short Story; Kamera: Walter Lassally; Musik: John Addison; Schnitt: Antony Gibbs;

Länge: 104 Minuten; westdeutscher Kinostart: 24. Juni 1966; ostdeutscher Kinostart: 24. Januar 1969



Artikel empfehlen bei:  Mr. Wong Delicious Facebook  Webnews Linkarena  Hilfe

© filmrezension.de

home
  |  regisseure/schauspieler   |  e-mail
 über uns  |  impressum  


 
Zitat

"Du musst ja nicht leiden, um Leid im Film zu zeigen. Du kannst Dinge verstehen."

David Lynch (20. Januar 1946 - 15. Januar 2025), Regisseur von "Blue Velvet", "Mulholland Drive" und etlichen weiteren wichtigen Filmen

Drucken

Artikel empfehlen
Mr. Wong Delicious Facebook Webnews Linkarena 
Hilfe