13.12.2016
Sozialer Realismus der Brüder Dardenne

Das unbekannte Mädchen


Das unbekannte Mädchen: Filmplakat Unter den vielen guten Filmen der Dardenne-Brüder ist "Das unbekannte Mädchen" ein Besonderer. In ihren bislang zehn Dramen vermischen die beiden belgischen Regisseure stets ihre gehobene Meisterschaft des Inszenierens mit einer sozialen Botschaft. Im neuesten Film möchte eine junge Ärztin eine Tote, die wohl ermordet wurde, nicht anonym beerdigt wissen. Da das unbekannte Mädchen eine Prostituierte war, begibt sich die Frau in Lebensgefahr, als sie von der Polizei unerwünschte Nachforschungen anstellt. Jenny Davin, die Ärztin, wird von Adèle Haenel dargestellt. Allein Haenel lohnt schon den Gang ins Kino. Die Brüder Dardenne setzen auf perfekte realistische Sequenzen, wenn sie Davin zwischen Patientenbesuchen und ihren Bemühungen um den Namen der Toten begleiten. Fast immer im Kamerafokus: die junge Doktorin, die sich mitschuldig am Tod der nicht viel jüngeren Frau fühlt.

Es klingelt. Aber die Sprechstundenzeit ist vorbei. Die Vertretungsärztin Jenny Davin erlaubt dem Praktikanten nicht, die Tür zu öffnen. Sie wird später nicht nur eingestehen, dass es ein Fehler war. Denn die Prostituierte brauchte Hilfe. Schutz. Davin wird auch gegenüber dem Praktikanten zugeben, dass sie nur recht behalten wollte: Ihre Machtstellung gegenüber dem Azubi nutzte sie aus, sie hätte gerne selber die Tür öffnen wollen. Die Reue ist von den Dardennes, ohne zu viele Worte zu verwenden, ergreifend dargestellt. Hätte sie die Tür geöffnet, so Davins Schlussfolgerung, wäre die Unbekannte nicht tot und auf einem Armenfriedhof anonym beigesetzt. Die Ärztin kauft ein Grab. Es fehlt der Name des farbigen Mädchens. Also begibt sich die junge Frau auf die Suche.

Das unbekannte Mädchen: Adèle Haenel Angemessen Zeit lassen sich Jean Pierre und Luc Dardenne für ihre Erzählung. Immer wieder zwischen die Nachforschungen sind Besuche der Ärztin bei Patienten geschnitten. Diese Szenen langweilen nie, der Zuschauer erfährt viel über die unterschiedlichsten, meist armen Menschen, die sich Jenny Davin anvertrauen. Freundschaftlich geht die junge Ärztin mit ihnen um, so dass sie einen hingebungsvollen Entschluss fasst: Ihre Karriere als Privatärztin schmeißt sie hin. Mehr als nur latent schwingt im Film die Botschaft mit, dass sich soziales Engagement positiv auswirkt in Zeiten, in denen es vielen Menschen immer schlechter geht, finanziell oder gesundheitlich, weil Sozial- und Gesundheitsreformen ihnen Schaden zufügen.

Gleichzeitig spielt die junge Frau Detektivin. Da der Film auch einen Angelpunkt benötigt, erfanden die Dardennes als Autorenfilmer eine Haupthandlung, die fast aufgesetzt wirkt: Denn Jenny ist erfolgreich bei der Nachforschung, zu erfolgreich. Drogenhändler bedrohen sie. Aber diese sind nicht die Mörder der Prostituierten…

Das unbekannte Mädchen Der Film, der im Wettbewerb des wichtigsten Filmfestivals der Welt, in Cannes 2016 lief und dort unter anderen mit dem Gewinnerfilm "Ich, Daniel Blake" und "Toni Erdmann" um die Goldene Palme konkurrierte, zeigt einen realistischen Ausschnitt aus dem Leben einer Ärztin, wie ihn fast nur die Brüder Dardenne inszenieren können. Adèle Haenel, mehrfache César-Preisträgerin, als die Doktorin ist eine Wucht. Ihr folgt der Zuschauer gerne bei den Behandlungen der Mitmenschen. Fast zu viel des Guten ist im Film die Story um alle, die die Prostituierte kannten, und zur Gefahr für die Ärztin werden. Fast. Der Film ist ansonsten meisterlich in Szene gesetzt.  

Michael Dlugosch / Wertung: * * * * (4 von 5) 
 

Quelle der Fotos: temperclayfilm

 
Filmdaten 
 
Das unbekannte Mädchen (La fille inconnue) 
 
Frankreich/Belgien 2016
Regie & Drehbuch: Jean Pierre und Luc Dardenne;
Darsteller: Adèle Haenel (Dr. Jenny Davin), Olivier Gourmet, Thomas Doret, Olivier Bonnaud, Jérémie Renier, Louka Minnella, Ben Hamidou, Fabrizio Rongione, Marc Zinga u.a.;
Produzenten: Jean Pierre und Luc Dardenne, Denis Freyd; Kamera: Alain Marcoen; Schnitt: Marie-Hélène Dozo;

Länge: 106,16 Minuten; FSK: ab 6 Jahren; ein Film im Verleih von temperclayfilm; deutscher Kinostart: 15. Dezember 2016



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"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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