05.08.2023

Dampferfahrt auf seichtem Gewässer
oder:
Nationalsozialismus light

Das Narrenschiff

Vier Jahre nach "Urteil von Nürnberg" (1961) drehte Regisseur Stanley Kramer erneut einen Film, der sich mit dem Nationalsozialismus befasste, diesmal am Beginn des Dritten Reiches, 1933. Der Ensemblefilm auf hoher See bietet hochkarätige Schauspieler auf, beginnend bei "Vom Winde verweht"-Star Vivien Leigh in ihrer letzten Rolle über Simone Signoret und Oskar Werner, George Segal, Lee Marvin bis hin zu Heinz Rühmann. Und doch zieht der Film nicht - der Schrecken der Nazizeit ist hier nicht erfasst. Probleme sind auf Soap-Opera-Niveau heruntergefahren.
Der Dampfer legt in Veracruz/Mexiko ab mit Ziel Bremerhaven. Die verschiedensten Gäste sind an Bord. Ein deutscher Kleinwüchsiger, Karl Glocken (der US-amerikanische Schauspieler Michael Dunn), spricht zu Beginn des Films freundlich, fast grinsend, das Kinopublikum direkt an: Es sei ein Schiff "voller Narren". Damit meint er, ohne es auszusprechen, speziell seinen Landsmann Siegfried Rieber (der US-Schauspieler José Ferrer), der als Herausgeber einer deutschnationalen Zeitung Vordenker dessen ist, was kommt. Und es laut herausposaunt. Viel mehr zur Nazizeit bringt der Film aber nicht. Die anderen Fahrgäste sind hingegen nicht so "närrisch". Die Erwartungshaltung der Filmzuschauer wird somit im Nachhinein enttäuscht.

Ein Kapitän, der sich von den Passagieren möglichst fernhalten möchte (Charles Korvin).

Der Schiffsarzt, der seit seinem überstandenen Herzinfarkt müde vom Leben ist und den Kapitän zu Tisch vertreten muss (Oskar Werner).

Der erwähnte Siegfried Rieber, der, verheiratet, mit seiner Sekretärin, einer an Eva Braun gemahnenden Blondine (Christiane Schmidtmer) anbändelt.

Riebers Kajüten-Zwangsmitbewohner Julius Löwenthal (Heinz Rühmann), ein Jude.

Ein junges Paar, frisch verliebt, das sich während der Überfahrt zerstreiten wird (Elizabeth Ashley, George Segal).

Eine von Männern angewiderte, alternde Dame (Vivien Leigh).

Ein raubeiniger Ex-Baseballspieler (Lee Marvin), der ausgerechnet an ihren Tisch gesetzt wird.

Eine auf Kuba hinzusteigende Komtesse (Simone Signoret), die, ins Exil wechselnd, eine Liebesbeziehung mit dem Schiffsarzt eingehen wird. Auch, um ihre Abhängigkeit von Schlafmitteln, die er ihr beschafft, befriedigt zu bekommen.

Weitere Personen handelt Regisseur Stanley Kramer unter ferner liefen ab. Der Film nach dem gleichnamigen Roman von Katherine Anne Porter aus dem Jahr 1962 schippert auf seichten Gewässern, so ruhig wie der Atlantik während des Films bleibt - kein Sturm da. Die Betonung von "Das Narrenschiff" liegt zwar auf der Betrachtung der Vorboten des Nationalsozialismus, und nicht nur in Form des Herausgebers Rieber. Aber seicht, sehr seicht. Juden werden leicht, ganz leicht gemobbt: Löwenthal sitzt am Einzeltisch, der Kleinwüchsige wird an seinen Tisch gewiesen. Rieber sitzt am Kapitänstisch. Dort kommt es zu einem Gespräch, das Juden meint, ohne es auszusprechen: Die Frage "Welche artfremden Einflüsse?" fällt. Alle blicken verstohlen zu Löwenthal, der das nicht registriert. Dieser unterhält sich mit Glocken: Auf die Frage, ob er Jude sei, verneint der Kleinwüchsige und entgegnet humorvoll, wie er auch sonst nie den Humor verliert: "Ich vertrete meine eigene Minderheit."

Dass gerade Heinz Rühmann einen fast stets freundlich bleibenden Juden spielt, mag erstaunen: Rühmann selbst war mit einer Jüdin verheiratet, die im Dritten Reich ins Exil ging. Sie ließen sich scheiden, Rühmann unterstützte seine Ex-Frau finanziell - und blieb in Deutschland. Der populäre Schauspieler war Mitläufer. Mehr zu Rühmann im Dritten Reich vergleiche die Filmkritik zu "Die Feuerzangenbowle" (1944).

Am Kapitänstisch wird eines Tages ein Eklat stattfinden: Der Deutsche Freytag (Alf Kjellin) muss den Tisch auf Betreiben Riebers wechseln, denn seine Frau ist Jüdin, erfuhr Rieber. Es folgt die beste, weil eindringliche Szene des Films mit Shakespeare-Anspielung. Wie in "Der Kaufmann von Venedig" spricht Freytag erschüttert einen seine Frau verteidigenden Monolog: Sie sei ein Mensch! Ein Mensch, der anderen nie Böses wolle. 

Lee Marvins Ex-Baseballspieler Bill Tenny wundert sich darüber. Die Männer hassende Mary Treadwell kontert:
"Vielleicht hattet ihr zu viel damit zu tun, Neger zu lynchen, um euch auch noch Zeit für die Juden zu nehmen."
Tenny reagiert sprachlos. Ansonsten nehmen die Stars Vivien Leigh und Lee Marvin verschwenderisch Statistenrollen ein.

Es folgt in der Rieber-Löwenthal-Kajüte der gehaltvollste Dialog des Films:
"Löwenthal, die Juden sind unser Unglück! Diese historische Tatsache werden Sie doch nicht bestreiten wollen." - "Natürlich nicht." - "Sie geben mir Recht?" - "Natürlich. Die Juden und die Radfahrer." - "Wieso die Radfahrer?" - "Wieso die Juden?"
Und Löwenthal verlässt den Raum.

Es lässt sich erkennen, dass sich das Filmteam um Regisseur Kramer und Drehbuchautorin Abby Mann viel vorgenommen hat. Es ist hier nicht alles erwähnt. Aber es ist zu viel, es bleibt Stückwerk, da nichts perfekt ausgearbeitet ist, alle angesprochenen Themen wie vorgestellten Personen bleiben auf der Strecke. Am Schluss des Films soll eine latente Drohkulisse das Filmpublikum erschüttern, aber auch das gelingt nicht: Löwenthal, in Bremerhaven von Bord gekommen, wird freundlich von seiner Familie begrüßt - und lächelt. Happy End? Nebendran ist ein Uniformierter mit Hakenkreuz-Binde zu sehen. Das Wissen der Kinozuschauer um das unmittelbar Bevorstehende müsste einen Schrecken erzeugen. Aber dazu hat der Film nicht genügend Kräfte entwickelt, er rutscht häufiger in den Soap-Opera-Stil ab, sogar bei der noch am Ausführlichsten erzählten Liebesgeschichte der Komtesse mit dem Arzt.

"Das Narrenschiff" enthält, kurz gesagt, nicht viel, mit der Tendenz zu: nichts. Und der Kleinwüchsige Glocken bestätigt es gewissermaßen, als er sich nochmal an das Publikum wendet:
"Ich kann direkt hören, wie Sie sagen: Was hat denn das alles mit uns zu tun? - Nichts!"  

Michael Dlugosch / Wertung: * * (2 von 5)



Filmdaten

Das Narrenschiff
(Ship of Fools (1965))

USA 1965
Regie & Produzent: Stanley Kramer;
Darsteller: Vivien Leigh (Mary Treadwell), Simone Signoret (die Komtesse), José Ferrer (Rieber), Lee Marvin (Tenny), Oskar Werner (Dr. Schumann), Elizabeth Ashley (Jenny), George Segal (David), José Greco (Pepe), Michael Dunn (Karl Glocken), Charles Korvin (Kapitän Thiele), Heinz Rühmann (Löwenthal), Lilia Skala (Frau Hutten), BarBara Luna (Amparo), Christiane Schmidtmer (Lizzi), Alf Kjellin (Freytag), Werner Klemperer (Huebner), John Wengraf (Graf), Olga Fabian (Frau Schmitt), Gila Golan (Elsa), Oscar Beregi Jr. (Lutz) u.a.;
Drehbuch: Abby Mann nach dem gleichnamigen Roman von Katherine Anne Porter; Kamera: Ernest Laszlo; Musik: Ernest Gold; Schnitt: Robert C. Jones;

Länge: 149 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; westdeutscher Kinostart: 1. Oktober 1965



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Zitat

"Was soll das denn sein - wo du doch Schauspieler sein kannst? Da will man doch nicht Arzt werden!"

Die Reaktion der schauspielernden Eltern von Michael Verhoeven (13. Juli 1938 - 22. April 2024) auf seinen Wunsch, Medizin zu studieren - er wurde Regisseur ("o.k.", "Die weiße Rose"), Schauspieler ("Das fliegende Klassenzimmer" (1954), "Der Pauker") und Arzt

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