August 2001
Jeanne d'Arcs kleine große Schwester: Amélie vom Montmartre
Die fabelhafte Welt der Amélie
Sie lächelt lieb, aber schüchtern, sie ist jung und betörend, ja bezaubernd, aber alleine, so alleine, dass sie sich ihre eigene Phantasiewelt um sich herum kreiert, sie spricht nicht viel, fast gar nicht, aber wehe, wenn sie Ungerechtigkeit erlebt, dann wird sie zur heimlichen, ganz heimlichen Rächerin der Unterdrückten, doch beim genauso einsamen, genauso schweigsamen, genauso liebevoll versponnenen jungen Mann, in den sie sich verliebt, weiß sie vor lauter Schüchternheit nicht weiter... bis das Glück, das sie ihren Mitmenschen schenkt, auch zu ihr selbst findet. Mit Amélie Poulain (Audrey Tautou) hat Regisseur Jean-Pierre Jeunet ("Délicatessen", 1991) eine fabelhafte Film-Heldin erschaffen und mit "Die fabelhafte Welt der Amélie" einen wundervollen und Wunder-vollen Film.
Selten hat ein französischer Film in den letzten Jahren für so viel Aufsehen gesorgt und dabei die Herzen des französischen Kino-Publikums im Sturm erobert. Staatspräsident Jacques Chirac ließ sich den Film eigens in den Elysée-Palast kommen, um die Sprache der kleinen Leute in Paris zu hören, sein "um ihnen aufs Maul zu schauen" ist in Frankreich bereits Sprichwort geworden, und La Grande Nation ist von Jeunets Titelheldin so begeistert, dass die Figur der Amélie innerhalb kürzester Zeit zu einem Nationalmythos vom Range einer Johanna von Orléans wurde. Zu Recht: "Amélie" überragt mit seiner originellen, innovativen Geschichte, die in wie aus einem Schmuckkästchen entliehene Bilder getaucht ist, den eintönigen Kino-Alltag um Längen und lädt geradezu zum Träumen vom Glück und von der Liebe ein.
Sicher nicht grundlos spielt "Die fabelhafte Welt der Amélie" gerade am Montmartre, dem Pariser Künstlerhügel mit seinen verwinkelten Straßen, die noch aussehen wie zur Zeit Henri de Toulouse-Lautrecs - wird der Montmartre doch von der Basilika "Sacré Coeur" überragt. Noch ein zweites "heiliges Herz" gibt es laut Jean-Pierre Jeunet und seinem Co-Drehbuchautor Guillaume Laurant dort, auf dem "Berg der Marter": Amélie Poulain, knapp über 20 Jahre alt, ist scheinbar nur eine unscheinbare Kellnerin im Bistro "Café les 2 Moulins", sie ist äußerst schweigsam, Worte sind ihr kaum zu entlocken, sie beantwortet Fragen schüchtern mit Kopfschütteln, aber sie erkennt die Gefühle ihrer Mitmenschen und hilft, wo sie kann. Dabei hat Amélie ihren eigenen Sinn für Gerechtigkeit, stellt sich auf die Seite der Armen und Schwachen im Alltag und ist dabei heimliche Rächerin der Unterdrückten, wie etwa eines Gemüsehändlers, der von seinem Konkurrenten schikaniert wird. Sie lässt ihr großes Herz und ihren Einfallsreichtum spielen, wenn sie der Nachbarin die Liebesbriefe schreibt, die diese sonst nie bekäme, sie schenkt einem Goldfisch die Freiheit, einem Unbekannten vermittelt sie seine eigenen, längst vergessenen Kindheitserinnerungen und verkuppelt zwei, wenn sie merkt, dass sie zusammengehören und sich sonst nicht fänden. Dann schaltet sie schon mal die lautestmögliche Kaffee-Maschine an, damit die Besucher des Cafés von aus dem Nebenraum kommenden Geräuschen nicht gestört werden, und die Geräuschemacher auch nicht... Aber Amélies eigenes Liebesleben findet nicht statt: Zu einsam lebt sie für sich dahin. Dann sieht sie erstmals Nino (Mathieu Kassovitz) und verliebt sich sofort. Der genauso ruhige und einzelgängerische Nino wäre genau der Richtige: Kniend sucht er auf dem dreckigen Boden einer Metro-Station nach einem Pass-Foto, das er unbedingt für sein Album der weggeworfenen, da missglückten Pass-Fotos braucht. Jetzt bräuchte es nur noch einen Wink des Schicksals, der die zwei wortkargen Menschen zueinander führte... Selten zuvor war die Meinung des französischen Volkes so einheitlich positiv über einen Film. Aber auch selten wurde ein französischer Film der letzten Zeit so kontrovers diskutiert. In den offiziellen Wettbewerb der Filmfestspiele in Cannes 2001 wurde "Amélie" nicht aufgenommen, worauf Jean-Pierre Jeunet kurzerhand, als Racheakt, den Kino-Start vorziehen ließ, parallel zum laufenden Festival. Das französische Kino-Publikum dankte es ihm mit über hunderttausend Besuchern gleich am ersten Tag. Negative Meinungen zu seinem Film musste Jeunet auch weiterhin akzeptieren, in ersten französischen Filmkritiken wurde Jeunets Hang zu einem allzu idyllischen, virtuell verfremdeten Postkarten-Paris kritisiert. Ein besonders bitterer Vorwurf lautete, zufällig ins Bild gelaufene Ausländer seien wegretuschiert worden. Tatsache ist, dass Jeunet bestimmte Aufnahmen von Paris nachträglich am Computer verändert hat, Plakate im Hintergrund wurden farblich dem Bildaufbau angepasst, beispielsweise - aber Paris wird in "Die fabelhafte Welt der Amélie" keineswegs nur bunt und schön gezeigt, der Optimismus mancher Bilder wird immer wieder gebrochen, einige Szenen spielen in einem besonders üblen Porno-Shop, in dem Nino mangels Alternativen arbeitet, die Metro-Stationen sind so einsam und verwahrlost wie die Bewohner des Montmartre, denen Amélie etwas Lebensglück schenkt, vom grausamen Unfalltod Prinzessin Dianas in einem Pariser Auto-Tunnel ist einmal nicht nur die Rede, seine Erwähnung hat sogar kathartische Bedeutung für den Film, da von da an seine Handlung anders fortgeführt wird. Die Stimmung einer heilen Welt kommt mitnichten auf, im Gegenteil: Jeunet vergisst nicht die Grundlage, die seinen Film "Délicatessen" einst, 1991, so stark gemacht hatte, Düsternis in den beschriebenen Szenen und pechschwarzer Humor bildeten eine den Zuschauer bannende Wechselwirkung, die Jeunet in seiner "Amélie" in Perfektion erneut verwendet. Was Jeunet wiederum mit dem Berliner Maler Michael Sowa verbindet, der sowohl von Magritte inspirierte surreale Bilder ironisch mit Tieren durchbrochen malt als auch für düstere Gemälde des Grauens verantwortlich zeichnet. Wenn Amélies Fantasie Tierfiguren zum Leben erweckt, wie Bär und Ente als Porträts über Amélies Bett oder ein Schwein als Nachttischlampenhalter, so entstammen die am Computer in die Zelluloid-Bilder eingearbeiteten Tiere der Feder von Michael Sowa. Gerade Sowas Tiere und ähnliche kleine, innovative Einfälle machen den Charme von Jeunets Film aus, vor allem aber die beiden Hauptdarsteller. Dabei entdeckte der Regisseur die 23-jährige Audrey Tautou nur zufällig, ihre naiven und doch klugen Kulleraugen blickten ihn von einem Plakat des Films "Schöne Venus" (1999) an. Eigentlich sollte die britische Schauspielerin Emily Watson die Rolle übernehmen, die zwar absagen musste, aber der Name "Amélie" ist eine Anspielung auf sie, deren Charakter in Lars von Triers "Breaking the Waves" (1997) Jeunet und Laurant bei der Entwicklung ihrer kleinen Heldin am Montmartre beeinflusst hatte. Für die männliche Hauptrolle holte Jeunet seinen Regisseurs-Kollegen Mathieu Kassovitz, der die Filme "Hass" und "Die purpurnen Flüsse" inszeniert hat, vor die Kamera. Eine gute Wahl - Kassovitz stellt den zerstreut wirkenden Einzelgänger Nino und seine romantischen Züge mit einer Unbedarftheit dar, die manch anderer professioneller Schauspieler nicht an den Tag legen würde. Nino hat sich über ein Pass-Foto in Amélie verliebt. Jetzt ist er verunsichert, ob der erste Blick genügt. Aber der Mann auf einem anderen Pass-Foto spricht zu ihm: "Du kennst sie doch schon immer. Du hast sie doch schon in deinen Träumen gesehen". In dieser Szene wird ausgesprochen, was der Film tatsächlich erreicht: Der Zuschauer ist zum Träumen eingeladen.
Michael Dlugosch /
Wertung: * * * * * (5 von 5)
Quelle der Fotos: Prokino Filmdaten Die fabelhafte Welt der Amélie (Le fabuleux destin d'Amélie Poulain) Frankreich / Deutschland 2001; Regie: Jean-Pierre Jeunet; Drehbuch: Jean-Pierre Jeunet, Guillaume Laurant; Produzenten: Jean-Marc Deschamps, Claudie Ossard (von der Filmstiftung Nordrhein-Westfalen co-produziert); Originalmusik: Yann Tiersen; Kamera: Bruno Delbonnel; Schnitt: Hervé Schneid; Casting: Pierre-Jacques Bénichou, Valerie Espagne; Szenenbild: Aline Bonetto; Tier-Zeichnungen: Michael Sowa; Darsteller: Audrey Tautou (Amélie Poulain), Mathieu Kassovitz (Regisseur von "Hass", "Die purpurnen Flüsse"; Nino Quincampoix), Rufus (Raphaël Poulain, Amélies Vater), Yolande Moreau (Madeleine Wallace, Vermieterin), Artus de Penguern (Hipolito, Dichter), Urbain Cancelier (Collignon, Händler), Dominique Pinon (Joseph), Maurice Bénichou (Dominique Bretodeau), Claude Perron (Eva, die Stripperin), Michel Robin (Collignons Vater), Isabelle Nanty (Georgette), Claire Maurier (Suzanne, Café-Besitzerin), Clotilde Mollet (Gina, Kellnerin), Serge Merlin (Dufayel, der "Mann aus Glas"), Jamel Debbouze (Lucien), Lorella Cravotta (Amandine Poulain, Amélies Mutter), Armelle (Philomène, Stewardess), Flora Guiet (Amélie Poulain, acht Jahre alt), Amaury Babault (Nino als Kind), Jean Darie (blinder Mann), Ticky Holgado (auf Pass-Foto abgebildeter Mann), Marc Amyot (fremder Mann), Dominique Bettenfeld (der schreiende Nachbar), Eugène Berthier (Eugene Koler), Andrée Damant (Collignons Mutter), Luc Palun (Amandine Poulains Händler), Jacques Viala (Händler), Valérie Zarrouk (weibliche Dominique Bredoteau), Kevin Fernandes (Dominique Bretodeau als Kind), Sophie Tellier (Tante Josette), Gérald Weingand (Lehrer), Isis Peyrade (Samantha), Off-Erzähler im Original: André Dussollier ("Das Leben ist ein Chanson", "Die kleine Apokalypse"), Frédéric Mitterrand als er selbst. Farbformat: Farbe und schwarz-weiß; Länge: 120 Minuten; FSK: ab 6 Jahren; deutscher Kinostart: 16. August 2001; Prädikat der Film-Bewertungsstelle Wiesbaden: besonders wertvoll; ein Film im Verleih von Prokino (Fox)
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