31.07.2023

Selbstverteidigung und Strafe

A History of Violence

Der kanadische Regisseur David Cronenberg, im Jahr 2023 nunmehr 80 Jahre alt, ist ein Meister des filmischen Erzählens, wenn es um existenzialistische Fragen geht. Seine Filmfiguren haben dabei oft den Hang zu multipler Persönlichkeitsstörung. Durch Snuff-Videos ("Videodrome", 1983), Selbstversuche ("Die Fliege", 1986), Drogen ("Die Unzertrennlichen", 1988), Computerspiele ("eXistenZ", 1999) oder psychische Krankheiten ("Spider", 2002) geraten sie an den Rand ihrer selbst. In "A History of Violence" aus dem Jahr 2005 reicht es, dass ein Mann seine Vergangenheit verdrängt hat und von ihr eingeholt wird. Er ist gezwungen, sich ihr zu stellen. Ein scheinbar unbescholtener Familienvater muss wieder zum Kämpfer, der er mal war, mutieren. Ein blutiger, aber kluger Film nach einer Graphic Novel von John Wagner und Vince Locke.
Der Filmtitel ist doppeldeutig: Zum einen steht er für "Eine Geschichte der Gewalt". Zum anderen ist er umgangssprachlich als "gewalttätiges Vorleben" eines Menschen zu verstehen.

Der Film fängt nicht mit Tom Stall (Viggo Mortensen) an. Aber mit Gewalt. Zwei Männer reisen von Ort zu Ort und killen Jeden, dem sie begegnen. Auch ein Mädchen muss sterben. Der Film springt zu einem anderen Mädchen, Tom Stalls kleiner Tochter. Tom tröstet sie. Der mittelalte Mann ist glücklich mit Edie (sehr gut in ihrer Rolle: Maria Bello) verheiratet und hat einen jugendlichen Sohn, Jack (Ashton Holmes). Der Familienvater arbeitet in einem Diner. Eines Tages wird es von den beiden Killern besucht. Der Zuschauer weiß es, was Tom nicht ahnen kann: Auch hier soll niemand überleben. Aber die Männer sterben, Tom überwältigt sie. Was ihm nicht passt: Seine Heldentat kommt in die Medien. Und eine Frage steht im Raume: Wie konnte Tom, der scheinbar keine Erfahrung in Verteidigung hat, die Männer töten? Auch Edie fragt sich das, der Sheriff des Ortes ebenso. Bald taucht ein Mann im Diner auf, der Tom mit Joey anspricht und ihn von früher zu kennen behauptet. Carl Fogarty (Ed Harris) will Rache, er bedroht fortan die Familie, es stellt sich heraus, Tom war Joey, die Zeit wollte er hinter sich lassen. Er hat mit der Vergangenheit abgeschlossen, aber sie nicht mit ihm. Er muss sich ihr und seinem Bruder Richie (William Hurt) stellen. Das wird er tun.

William Hurt spielt den Bruder Richie expressiv als Höhepunkt des Films. Der Gangsterboss spricht mit seinem verschwundenen, tot geglaubten Bruder, was die Interpretation des Films mitliefert. Der Dialog sagt einiges aus:

"Du warst schon immer der Verrücktere von uns!" - "Jetzt nicht mehr!" - "... Du lebst den amerikanischen Traum, hast ihn vollkommen verinnerlicht. Du bist dieser andere Kerl fast schon so lange, wie du du selbst warst. Wenn du träumst, bist du dann noch Joey?" - "Joey ist schon vor langer Zeit gestorben."

Gangsterleben versus amerikanischer Traum, Gewalt versus friedliches Dasein, Extrovertiertheit contra zurückgezogenem Leben - das "Verrücktsein", das der eine Bruder dem anderen attestiert, existiert als Lösung aus dem Konflikt, aus der Gewaltspirale heraus zu wollen samt kompletter Verdrängung.

Cronenberg erzählt nebenbei vom fast erwachsenen Sohn Jack, der in der Schule gemobbt wird und sich schließlich mit überraschenden Schlägen gegen seine Peiniger wehrt. Ergebnis? Er ist von der Schule beurlaubt, nicht seine Kontrahenten, deren Eltern Strafanzeige erstatteten. Darauf legt Cronenberg großen Wert. Er müsste es nicht erzählen, wenn er sich nicht dabei etwas dachte: Selbstverteidigung erzeugt Strafe. Dies gilt für den Sohn wie für den Vater. Letzterem Strafe ist die zurückkehrende Vergangenheit, die sein Familienleben potenziell zerstört.

Die extrovertiert von David Cronenberg in Szene gesetzten Schauspieler, das Aufzeigen von Lösungen, wie man der Gewalt entkommt, die ganze Machart des Films mit anfangs ruhigen Elementen, die latent Bedrohung andeuten, sorgen für eine intelligente, geradezu intellektuelle filmische Grundstruktur. Samt Action.

Auch Jack wird einen Mann in Notwehr erschießen. Hier zeigt der Film nicht, was das mit dem Heranwachsenden macht, ein Maluspunkt für den Film. Oder will Regisseur Cronenberg sagen: Jack bleibt cool, er ist ganz der Vater?  

Michael Dlugosch / Wertung: * * * * (4 von 5)



Filmdaten

A History of Violence
(A History of Violence)

USA/Kanada/GB/Deutschland 2005
Regie: David Cronenberg;
Darsteller: Viggo Mortensen (Tom Stall), Maria Bello (Edie Stall), Ed Harris (Carl Fogarty), William Hurt (Richie Cusack), Ashton Holmes (Jack Stall), Peter MacNeill (Sheriff Sam Carney), Stephen McHattie (Leland), Greg Bryk (Billy), Kyle Schmid (Bobby Singer), Sumela Kay (Judy Danvers), Heidi Hayes (Sarah Stall) u.a.;
Drehbuch: Josh Olson nach der Graphic Novel von John Wagner und Vince Locke; Produzenten: Chris Bender, J.C. Spink; Kamera: Peter Suschitzky; Musik: Howard Shore; Schnitt: Ronald Sanders;

Länge: 96 Minuten; FSK: ab 18 Jahren; deutscher Kinostart: 13. Oktober 2005



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Zitat

"Was soll das denn sein - wo du doch Schauspieler sein kannst? Da will man doch nicht Arzt werden!"

Die Reaktion der schauspielernden Eltern von Michael Verhoeven (13. Juli 1938 - 22. April 2024) auf seinen Wunsch, Medizin zu studieren - er wurde Regisseur ("o.k.", "Die weiße Rose"), Schauspieler ("Das fliegende Klassenzimmer" (1954), "Der Pauker") und Arzt

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