April/Mai 2001

Cronenbergs Meditation zum Thema Identität

Die Unzertrennlichen

Die Zwillinge Chang und Eng - sie wurden von der Wissenschaft "Siamesische Zwillinge" genannt. Was einst der Eigenname eines einzelnen Brüderpaars war, ist heute der Fachbegriff für Zwillinge, deren Körper miteinander verwachsen sind. Diese Anomalie macht den Einen abhängig vom Anderen, ein getrenntes Leben ist nicht möglich. In Cronenbergs Film, der auf einer wahren Begebenheit aus dem Jahre 1975 beruht, teilt ein kanadisches Brüderpaar dieses Schicksal - obwohl beide nicht körperlich miteinander verbunden sind.

Die beiden erfolgreichen Gynäkologen Elliot und Beverly Mantle teilen alles miteinander: ihr Aussehen, ihre Kindheit, ihre Interessen, ihren Beruf, ihre Praxis und ihr Appartement. Ist Beverly der schüchterne, ruhige, emotionale, unsichere und feminine Part der beiden, ist Elliot das Gegenteil: Sein Auftreten ist arrogant, er verhält sich bewusst rational und maskulin. Eine seiner zahlreichen Eroberungen, die Patientin und Schauspielerin Claire Niveau, die nichts von der Existenz eines Zwillings weiß, wird Opfer eines Wechselspiels, denn Elliot läßt sich bei einigen Verabredungen mit Claire von Beverly "vertreten", der sonst wenig Erfolg bei Frauen hat. Claire, aufgrund einer dreigeteilten Gebärmutter unfruchtbar, gerät über die Identität ihres Liebhabers in Zweifel: Einmal empfindet sie Liebe, beim nächsten Treffen lässt er sie völlig kalt. Die Fassade bröckelt dahin. Der Abschied der aufgebrachten Claire hinterlässt einen verzweifelten Beverly, der zudem tablettensüchtig wird. Er muss sich entscheiden: Folgt er Claire oder bleibt er bei Elliot, seinem seelischen Komplement? Als Beverlys geistiger Zustand sich immer weiter verschlechtert, muss es zur Katastrophe kommen...

Cronenbergs Film zeigt uns das Schicksal der Mantle-Twins (Der Name betont ihre seelisch-geistige Verbundenheit: Mental-Twins!) in erschütternder Ausweglosigkeit. Beide sind keine eigenständigen Charaktere, sondern in Wahrheit nur zwei Hälften einer Persönlichkeit. Dies bindet sie aneinander: Ohne den anderen können sie nicht überleben. Sie teilen das Leid mit den Siamesischen Zwillingen Chang und Eng: Als der eine im Schlaf an einem Schlaganfall starb, starb kurz darauf auch der andere - vor Angst. Angst davor, einen Teil von sich zu verlieren, nicht mehr vollständig zu sein. Die Symbiose der Mantle-Twins funktioniert perfekt, bis Claire Niveau unwissentlich zwischen sie gerät und eine Trennung erforderlich macht. Denn ist sie für Elliot nur ein Verhältnis, so entwickelt sich zwischen ihr und Beverly bald mehr. Zwischen der Liebe zu Claire, dem Wissen seiner seelischen Unvollständigkeit und der daraus folgenden Abhängigkeit von seinem Bruder Elliot hin- und hergerissen, kann nur die "Trennung" der Mantle-Twins eine Lösung herbeiführen.

"Die Unzertrennlichen" ist nicht nur eine Meditation zum Thema "Identität", sucht man den Bezug zum Werk Cronenbergs, ergeben sich einige interessante Erkenntnisse. Ein beherrschendes Thema in seinem Schaffen ist die Evolution oder Mutation des menschlichen Körpers, das "Neue Fleisch" wie Cronenberg es nennt und in "Videodrome" (1984) expliziert. Ob einem weiblichen Unfallopfer als Folge einer Haut-Transplantation ein Sexualorgan in der Achselhöhle wächst ("Rabid - Der brüllende Tod", 1977), Menschen aufgrund der Einnahme eines Medikamentes einer Mutation des Gehirns unterliegen, die ihnen telepathische Kräfte verleiht ("Scanners", 1981), ein Wissenschaftler zum Mensch-Fliegenwesen mutiert ("Die Fliege", 1986) oder die Protagonisten in "eXistenZ" (1998) zu lebenden Computerspielkonsolen werden - die Existenz des Körpers ist immer ein trügerischer Segen. Folglich ist der Körper für "Die Unzertrennlichen" selbst die Mutation.

Beverly, der die Schwelle zum Wahnsinn schon überschritten hat, erkennt das. Der Körper wird dem halbierten Zwilling zum Gefängnis und zum Feind. Als er ein nicht zu Anwendungszwecken konstruiertes Untersuchungsgerät verwendet und einer Patientin Schmerzen zufügt, sagt er später nur: "Es war nicht das Instrument. Die Körper sind falsch!" Diesen mutierten Körpern muss Beverly seine Werkzeuge anpassen. Bei einem Künstler lässt er sich neue Instrumente konstruieren, die zur Behandlung mutierter Frauen vorgesehen seien, wie er sich erklärt.
Die Trennung des Geistes vom ihn begrenzenden, mutierten Körper muss folglich die letzte mögliche Mutation sein. Sie stellt dann auch den Endpunkt von "Die Unzertrennlichen" dar.

In Cronenbergs an Höhepunkten nicht armen Schaffen ist "Die Unzertrennlichen" vielleicht bisher sein Meisterwerk. Sehr behutsam, in trostlosen aber edlen Bildern, breitet Cronenberg unaufhaltsam eine Geschichte aus, die den Betrachter von der ersten Sekunde an in ihren Bann zieht. Jeremy Irons' an Schizophrenie grenzende Darstellung der Mantle-Twins ist beeindruckend und mag als seine bis heute beste Leistung gelten (Er drehte noch einen Film mit Cronenberg: "M. Butterfly", 1993), und Cronenbergs Stammkomponist Howard Shore unterstreicht mit seinem Score perfekt die Tragik der Geschichte.

Das alles macht "Die Unzertrennlichen" zu einem der seltenen Filme, die eine faszinierende Geschichte perfekt zu erzählen wissen, dem Zuschauer emotional einiges abverlangen und ihn auch noch lange, lange nach dem Filmende nicht loslassen.  

Oliver Nöding / Wertung: * * * * * (5 von 5)



Filmdaten

Die Unzertrennlichen
(Dead Ringers)

Kanada 1988
Regie: David Cronenberg; Drehbuch: David Cronenberg und Norman Snider nach dem Roman "Twins" von Bari Wood und Jack Geasland; Produktion: David Cronenberg und Marc Boyman; Kamera: Peter Suschitzky; Musik: Howard Shore;
Darsteller: Jeremy Irons (Beverly / Elliot Mantle), Geneviève Bujold (Claire Niveau), Heidi von Palleske (Claire Weiler), Barbara Gordon (Danuta), Stephen Lack (Anders Wolleck), Shirley Douglas (Laura) u.a.

Länge: 116 Minuten; FSK: ab 16 Jahren



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