29.11.2020

Wiegenlied für eine Leiche

Der wahre Horror im Film kommt nicht von Dinosauriern, Riesenaffen, Untoten, sprechenden Autos und all den anderen übernatürlichen Erscheinungen, die ja bisweilen auch unfreiwillig lächerlich wirken. Viel gruseliger ist der Horror, der aus den Untiefen des Menschlichen, oder besser: des Unmenschlichen erwächst. Die Melodie eines Toten klingt durch das Haus, eine abgeschlagene Hand liegt auf dem Bett, ein Kopf rollt die Freitreppe herunter, ein Ertrunkener taucht wieder auf, mit Schlamm bedeckt – das alles ist kein Werk von Geistern oder Zombies, sondern eine teuflisch inszenierte Intrige, um eine Frau wahnsinnig zu machen... "Die Teuflischen" ("Les Diaboliques") von Henri-Georges Clouzot (1955) lassen grüßen.

Prolog. 1927, Baton Rouge, Louisiana. Die junge Southern Belle – so der filmgeschichtliche Name für eine typische Südstaatenschönheit – Charlotte Hollis will während eines rauschenden Festes in ihrem Elternhaus mit ihrem verheirateten Geliebten John Mayhew durchbrennen, doch der wird auf grausige Weise im Gartenpavillon ermordet: Mit einem Fleischerbeil werden ihm der Kopf und eine Hand abgetrennt. Wer hat das getan? Die Leute vermuten: Charlotte selbst, weil sie Blutflecken auf ihrem weißen Kleid hat. Charlotte glaubt, ihr Vater sei der Täter, weil er gegen diese unehrenhafte Verbindung war. Der Fall wird nie aufgeklärt.

1964, 37 Jahre später. Charlotte lebt allein in ihrem großen Herrenhaus, sie ist ein bisschen wunderlich und grantig geworden. Gegen Bauarbeiter, die das Haus wegen einer geplanten Straße abreißen wollen, verteidigt sie sich wütend mit ihrem Gewehr. Zwei Leute wollen ihr in ihrem Streit mit der Obrigkeit zur Seite stehen: ihre Cousine Miriam und der Arzt Dr. Bayliss. Was der Zuschauer noch eine ganze Weile lang nicht ahnt: Die beiden frischen ihre alte Liebe wieder auf und versuchen, sich das Haus unter den Nagel zu reißen. Sie wollen Charlotte für verrückt erklären lassen und ins Irrenhaus abschieben. Dazu inszenieren sie ein paar unheimliche Vorfälle, die Charlotte auf schreckliche Weise an ihren damaligen Geliebten erinnern und ihr Trauma neu beleben sollen. Als Charlotte mit einem Revolver auf eine Figur ohne Kopf und Hand schießt und von der scheinbar entsetzten Miriam gesagt bekommt, dass sie den Doktor erschossen hat, fahren die Frauen in die Wildnis und werfen die Leiche in einen Fluss. Zu Hause bricht Charlotte dann endgültig zusammen. Das war der letzte Fake: In Wahrheit waren Platzpatronen in der Waffe, und die "Leiche" wurde von Bayliss nur gespielt. Zufällig belauscht Charlotte vom Balkon aus, wie die beiden Schurken mit Champagner darauf anstoßen, dass sie die "Irre" nun endlich los sein werden und sich ein schönes Leben machen können. Da stößt sie einen schweren Blumentopf vom Balkon, der die beiden erschlägt. Letzte Szene: Großer Presserummel. Charlotte wird von einem Auto abgeholt und winkt dem Reporter zu, der sie schon einmal aufgesucht hatte, um über den alten Mordfall zu recherchieren. Jetzt überreicht er ihr einen Brief, den Jewel Mayhew, die Frau des Ermordeten, geschrieben hat. Sie gesteht darin den Mord an ihrem untreuen Ehemann und teilt mit, dass Miriam sie jahrelang erpresst hat: Sie war heimliche Zeugin des Mordes im Gartenpavillon gewesen.

Charlotte wird von Bette Davis gespielt, die in der "Liste der größten amerikanischen weiblichen Filmstars" auf Platz 2 steht – nach Katharine Hepburn und vor Audrey Hepburn (Umfrage des American Film Institutes, 1999). Sie entsprach nicht dem gängigen Schönheitsideal, hatte den Mut zur Hässlichkeit, spielte Herrscherinnen und Opfer und wirkte besonders durch ihre großen Augen, die oft durch Schminke noch hervorgehoben wurden. (Im Song "Bette Davis Eyes" von Kim Carnes, 1981, wurde ihnen ein Denkmal gesetzt.) Bette Davis überwältigt die Zuschauer mit ihrer ungeheuer intensiven Darstellung der Charlotte, die immer weiter in den Irrsinn getrieben wird. Ihr wütendes oder ängstliches Gesicht in Großaufnahme spiegelt den Horror, den auch wir empfinden.

Olivia de Havilland bekam die Rolle der Miriam erst, nachdem Joan Crawford während der Dreharbeiten ausgeschieden war. Man vermutet, dass Crawford ihre Krankheit nur vortäuschte, weil sie sich nach dem ebenfalls von Aldrich inszenierten "Was geschah wirklich mit Baby Jane?" (1962) nicht noch einmal von Bette Davis an die Wand spielen lassen wollte. Der Wechsel hat sich gelohnt. Auch Olivia de Havilland ist großartig. Sie ist das Gegenbild zu Bette Davis. Ihre Miriam ist eine schöne Frau, elegant gekleidet (übrigens teilweise mit privaten Kleidern von Olivia de Havilland), perfekt frisiert, spricht zu Beginn freundlich, lächelt gekünstelt und schockiert dann durch ihre abgrundtiefe Bosheit. Die Schauspielerin soll mit ihrer Rolle nicht ganz glücklich gewesen sein, sie befürchtete, dass die Darstellung der Mörderin Miriam ihrem Image schaden könnte.

Der zweite Verbrecher ist der hinterhältige Dr. Barlyss. Joseph Cotten war in Hollywood der Spezialist für dramatische Liebesfilme. Auch er liefert eine brillante Leistung ab. Er gibt den Arzt charmant, soigniert, freundschaftlich – scheinbar auf Charlottes Seite, spielt er die böse Intrige gegen sie mit. Er gibt ihr angebliche Beruhigungsmittel, in Wahrheit sind es bewußtseinsverändernde Drogen. Als das die schrullige Haushälterin Velma (Agnes Moorehead) bemerkt und zur Polizei gehen will, stürzt Miriam sie eiskalt die Treppe hinab in den Tod. Auch Moorehead spielt überzeugend, allerdings ziemlich outriert, hier hätte etwas Zurückhaltung nicht geschadet.

Robert Aldrich (1918 – 1983) galt als der harte Zyniker unter den Regisseuren Hollywoods, der sich mit seinen Filmen gern im Mainstream querstellte und immer öfter sozialpolitische Themen aufgriff. So warf etwa "Hollywood Story" (1955) einen kritischen Blick hinter die Kulissen der Traumfabrik, und "Rattennest" (1955) kann als Parabel auf die Kommunistenjagd das Senators McCarthy angesehen werden. Weitere Höhepunkte seines Schaffens waren "Was geschah wirklich mit Baby Jane?" (1962, auch mit Bette Davis) und "Das dreckige Dutzend" (1967). In "Wiegenlied für eine Leiche" zeigt er sich wieder einmal als Meister des Psychothrillers. Er schafft fast während der gesamten Laufzeit des Schwarz-Weiß-Films eine gespenstische Atmosphäre und eine ungeheure Spannung. Das geschieht mit typischen Gruseleffekten wie flatternden Gardinen, klappernden Türen, schwerem Gewitter und unheimlicher Musik, aber auch mit genial eingesetzten filmischen Mitteln wie aufdringlichen Kamerabewegungen, Blicken aus der Vogelperspektive, schnellem Heranzoomen, bizarren Bildeinstellungen, expressionistischer Beleuchtung, Licht- und Schattenwechsel. Das titelgebende Lied "Hush...hush, sweet Charlotte" ertönt immer wieder, gesungen und auf dem Cembalo gespielt, im Abspann interpretiert von Al Martino. Es erinnert Charlotte an ihren toten Geliebten ("Hush hush, sweet Charlotte / Charlotte, don't you cry / Hush hush, sweet Charlotte / He'll love you till he dies"). Trotz seiner süßen Melodie trägt es zum allgegenwärtigen Schrecken bei. Aldrich überfällt geradezu die Zuschauer, die sich seinem Bann nicht entziehen können. Und auch Kameramann Joseph F. Biroc, der dafür seine erste Oscar-Nominierung erhielt, leistet wunderbare Arbeit.

Das Einspielergebnis in den USA übertraf Aldrichs Erwartungen: 8 000 000 Dollar. Aber bei der zeitgenössischen Kritik kam der Film nicht gut an. Man warf dem Regisseur Vulgarität und mangelnde Sensibilität vor. "Berechnend und kaltherzig gezimmert" nannte der Kritiker der New York Times Aldrichs Inszenierung, "grob gekünstelt, absichtlich sadistisch und brutal widerlich", schließlich gar "grausig, prätentiös, widerlich und zutiefst ärgerlich". Die Kritik der 60er Jahre war offenbar noch nicht an solch krasse Filme gewöhnt und verkannte die großartige Schauspielerleistung, den spannenden und wendungsreichen Handlungsverlauf, die beeindruckende Südstaatenatmosphäre. Und sie übersah, dass der Film das ergreifende Porträt einer Frau liefert, die von der Gesellschaft als Mörderin und Verrückte gebrandmarkt wird, von allen abgelehnt und verlacht, und schließlich selbst glaubt, dass sie eine schreckliche Tat vollbracht hat. Dass "Hush...Hush, Sweet Charlotte" nicht in der Liste der "100 besten amerikanischen Thriller" (American Film Institute, 2001, Platz 1: "Psycho") auftaucht, ist unverständlich.  

Manfred Lauffs / Wertung: * * * * * (5 von 5)



Filmdaten

Wiegenlied für eine Leiche
(Hush...Hush, Sweet Charlotte)

USA 1964
Regie: Robert Aldrich;
Darsteller: Bette Davis (Charlotte Hollis), Olivia de Havilland (Miriam Deering), Joseph Cotten (Dr. Drew Bayliss), Agnes Moorehead (Velma Cruther), Cecil Kellaway (Harry Willis), Mary Astor (Jewel Mayhew), Victor Buono (Big Sam Hollis), Bruce Dern (John Mayhew), Wesley Addy (Sheriff Luke Standish), William Campbell (Paul Merchand, Magazinfotograf), Frank Ferguson (Zeitungsherausgeber), George Kennedy (Vorarbeiter), Frank Willock (Taxifahrer), John Megna (Nachbarjunge) u.a.;
Drehbuch: Henry Farrell, Lukas Heller; Produzenten: Robert Aldrich, Walter Blake; Kamera: Joseph F. Biroc; Musik: Frank De Vol; Schnitt: Michael Luciano;

Länge: 135 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; westdeutscher Kinostart: 30. April 1965



Artikel empfehlen bei:  Mr. Wong Delicious Facebook  Webnews Linkarena  Hilfe

© filmrezension.de

home
  |  regisseure/schauspieler   |  e-mail
 über uns  |  impressum  


 
Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

Drucken

Artikel empfehlen
Mr. Wong Delicious Facebook Webnews Linkarena 
Hilfe