20.08.2011
Unter Schnee
![]() Der altertümliche Name, mit dem die Stimme der Erzählerin von der in klirrendem Frost gefangenen Naturschönheit erzählt, weiht die dramaturgische Symbiose von Historizität und Gegenwart ein. Das Zeitlose im Leben der Menschen und der sie umgebenden Natur und das Fortbestehen von Bräuchen und Ritualen verwandeln die Dörfer und Berge in einen mythischen Grund, dessen Betreten Unkundige willkürlich in eine Märchenwelt führt, die ebenso malerisch wie geisterhaft ist. Der erste der nur angedeuteten Protagonisten, in deren Fußspuren Ottinger tritt, ist der Verfasser des Schneeatlas. Die von kaiserlicher Hand niedergeschriebene Analogie der verschiedenen Typen von Schneeflocken entstand inspiriert von den 22 Worten, die im Japanischen die Beschaffenheit von Schnee beschreiben, und von denen man meint jede einzelne auf den gleißenden Bildkompositionen der Kamera entdeckt zu haben.
Der gemeinsame Übergang von Mensch und Geisterwesen in eine untergegangene Ära symbolisiert das Ineinanderfließen von Tradition und Moderne in Echigo, dessen Bewohner noch die religiösen Feste und Rituale der alten Zeit lebendig halten. In spiegelverkehrter Gleichheit zu ihren fiktiven Protagonisten, denen die Kamera ebenso neugierig folgt wie den realen Einwohnern Echigos, trifft Ottinger auf ihrem filmischen Weg die alte Zeit an. Traurige Mythen wie die Sage von der Weberin, die von einem Bergdämon heimgesucht wird, und dem auf die Bergwerksinsel Sado verbannten Schauspieler, der im Exil schmerzlich-schöne Gedichte schuf, Übergangsriten wie die 108 Glockenschläge, die als Symbole für die Verfehlungen des alten Jahres das Neujahr einläuten, und humorvolle Bräuche wie das Bräutigam-Werfen, bei dem der Zukünftige von Freunden in den Schnee geworfen wird, fügt Ottinger zu ihrer eigenen "Schneeland Symphonie" zusammen. Stilisierung und präzise Beobachtung mäandern in eine Landschaftsvision, in der Theatralik, Kulturhistorie und Ethnografie ein einheitliches und dennoch klar abgegrenztes Gesamtwerk ergeben gleich den Flocken des Schneeatlas. In das aus ihm erstandene Reich kerbt sich schließlich der Ruß, der für Echigos Bewohnerin Glückssymbol ist "Schwarz ist die Farbe, die alle anderen Farben löscht. Schwarz ist Beständigkeit und Dauer", heißt es in "Unter Schnee". Eine Beständigkeit, die in der Schwärze des Kinosaals nach dem Ausklang des dokumentarischen Poems auch die Bilder der magischen Welt "Unter Schnee" haben. Lida Bach /
Wertung: * * *
(3 von 5)
Quelle der Fotos: Real Fiction Filmdaten Unter Schnee Deutschland 2011 Regie & Drehbuch: Ulrike Ottinger; Erzählerin: Eva Mattes; Darsteller: Takamasa Fujima, Kiyotsugu Fujima, Yumiko Tanaka, Yoko Tawada, Hiroomi Fukuzawa, Akemi Takanami, Setsuko Arakawa, Toru Yoshihara, Nori Katsumata u.a.; Produzenten: Ulrike Ottinger, Heino Deckert; Kamera: Ulrike Ottinger; Komponistin und Interpretin: Yumiko Tanaka; Schnitt: Bettina Blickwede; Länge: 107,36 Minuten; FSK: ohne Altersbeschränkung; ein Film im Verleih von Real Fiction Filmverleih; deutscher Kinostart: 15. September 2011
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