08.02.2017

Totem (2011)

Im Bochumer Reihenhaus der Familie Bauer liegt einiges im Argen: Der Vater säuft, die Mutter ist depressiv und gestresst, die jugendliche Tochter kapselt sich mit ihrem deutlich älteren Freund ab und der kleine Sohn geht in der allgemeinen Misere unter. Die Familienmitglieder leben nicht nur aneinander vorbei, sondern ohne jeglichen Antrieb vor sich hin – es ist der Gipfel der Sinn- und Trostlosigkeit, den "Totem" von Anfang an zeichnet. Dass die Bauers mit Fiona (Marina Frenk) eine Haushaltshilfe einstellen, bringt zwar etwas Bewegung in den monotonen Familienalltag, doch eine Besserung der traurigen Situation tritt keineswegs ein. Im Gegenteil lädt sich die Atmosphäre im Haus zunehmend mit latenten Aggressionen auf, wobei vor allem Fiona viel abbekommt – die Wutattacken der Mutter auf der einen, die sexuellen Avancen des Vaters auf der anderen Seite. Doch Fiona erträgt alle Demütigungen, die ihr Status als Haussklavin, Ersatztochter und Fremdkörper mit sich bringt, wortlos und ohne Gegenwehr.

Wie so vieles an "Totem", der 2011 als einziger deutscher Beitrag im offiziellen Programm des Filmfestivals von Venedig lief, bleiben Fionas Beweggründe im Unklaren. Genau dieser Umstand ist es, der das Regiedebüt von Jessica Krummacher zum wahrhaft unbehaglichen und beunruhigenden Filmerlebnis macht, das dem brutalen Sozialrealismus eines Ulrich Seidl nahe steht. Als Rezipient/in muss man die Handlungsweisen der Figuren immer wieder neu hinterfragen, kann aber letztlich nur ohnmächtig zusehen, wie die Bauers und ihre zunehmend mysteriöse Angestellte um sich selbst kreisen und am eigenen Dunst ersticken. Wie die irritierenden Plastik-Babypuppen, die die von Natja Brunckhorst ("Christiane F. – Wir Kinder vom Bahnhof Zoo") gespielte Mutter wie ihren eigenen Nachwuchs behandelt, scheint das Leben aus dem Reihenhaus gewichen – die leeren Puppenaugen sprechen Bände.

Dass Jessica Krummacher an der HFF München ein Dokumentarfilm-Studium absolviert hat, wirkt sich merklich auf die Inszenierung ihres eigensinnigen Kammerspiels aus: Beim Dreh improvisierte das Team ohne klassisches Skript und die meisten Rollen wurden mit Laien besetzt. Zusammen mit dem tristen Ambiente, dem zurückhaltenden Einsatz von Lichtquellen und den beengenden, schnörkellosen Handkamera-Bildern ergibt sich ein Realitätseffekt, den harte Schnitte und die strenge Inszenierung jedoch fortwährend aus den Angeln heben. Zwar bleibt vieles an "Totem" rätselhaft, doch gerade mit all seinen Widersprüchlichkeiten hinterlässt der ambitionierte und ohne Fördergelder realisierte Film einen bleibenden Eindruck.



Diese Filmkritik ist zuerst erschienen bei fluter.de.

 

Christian Horn / Wertung: * * * * (4 von 5)



Filmdaten

Totem (2011)


Deutschland 2011
Regie, Drehbuch & Schnitt: Jessica Krummacher;
Darsteller: Marina Frenk (Fiona Berlitz), Natja Brunckhorst (Claudia Bauer), Benno Ifland (Wolfgang Bauer), Alissa Wilms (Nicole), Cedric Koch (Jürgen), Fritz Fenne (Ulli), Dominik Buch (Schwimmlehrer) u.a.;
Produzenten: Martin Blankemeyer, Philipp Budweg, Jessica Krummacher, Timo Müller; Kamera: Moritz Schultheiß, Björn Siepmann;

Länge: 86 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; Kinostart: 26. April 2012



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