06.02.2012
The Music Never Stopped
![]() Die Geschichte ist lapidar erzählt: Gabriel Sawyer (Lou Taylor Pucci), ein Mittdreißiger wird verwahrlost in New York City aufgefunden. Er ist offenkundig desorientiert, und schon bald stellen die Ärzte einen gutartigen und operablen Gehirntumor fest. Die Crux an der Sache: Mit der Entfernung des Tumors verliert Gabriel wesentliche Funktionen seines Kurzzeit- wie Langzeitgedächtnisses. Die Eltern, zu denen der einst rebellische Gabriel seit beinahe 20 Jahren keinen Kontakt mehr pflegt, werden informiert, und nehmen sich seiner an. Die Grundstruktur der Story ist in den ersten fünf Minuten gesetzt. In zahlreichen Rückblenden wird die Lebensgeschichte von Gabriel, aber ebenso die konfliktreiche Geschichte der Familie, entfaltet. Parallel hierzu switcht der Filmemacher, der seine Erzählung in den 50er Jahren beginnen lässt, zur Jetztzeit, den Mitachtzigern. Es sind also zwei Erzählstränge, die die Geschichte zusammenhalten. Nach etlichen fehlgeschlagenen Versuchen der Ärzte, Gabriels Gedächtnis zu revitalisieren, wenden die Eltern sich an eine Musiktherapeutin, die Gabriel mit Rockballaden aus den 60er und 70er Jahren versucht in die Gegenwart zurückzuholen. Was nach anfänglichen Schwierigkeiten gelingt.
Durch ihr leises Agieren, aber durch ebenso durch ihre Liebe zu Mann und Sohn kann sie viel bewegen. Auch ihr ist die Wandlungsfähigkeit ins Gesicht geschrieben, wenn sie sich von der braven duldsamen Ehefrau der 50er Jahre zur Widerspruch leistenden Ehefrau der 80er Jahre verwandelt. In wesentlichen Situationen kann sie ihrem Mann, wenn auch nur kurz, das Handlungszepter aus der Hand reißen.
"The Music Never Stopped" zeigt die Veränderungen der US-amerikanischen Gesellschaft von den 50er bis zu den 80er Jahren. Das Aufbegehren einer Gegenkultur, die sich vehement gegen den Vietnamkrieg und gegen die ambivalente wie biedere Gesellschaftsordnung der 50er Jahre wendet – verkörpert durch Gabriel –, wird ebenso thematisiert wie das Amerika jener, die am Nationalstolz, an den uramerikanischen Werten und Tugenden und an ein für diese Generation typischen Pflichtgefühl und Wertekanon festhalten; Vater und Sohn werden zu Antipoden, die für ihre jeweilige Ideologie und politische Überzeugung, ihr persönliches Verhältnis riskieren. Auf der Mikroebene ist der Film ein berührendes wie authentisches Familiensoziogramm, das die Bündnisse, so wie die jeder Familie inhärenten, antagonistischen Strukturen offenlegt. Die Familie bricht auseinander, um wieder zusammenzufinden, indem sie ihre Voreingenommenheiten und Überzeugungen zugunsten der Liebe überwinden.
Der Generationenkonflikt wird hier, wenn man so will, auch über die Musik ausgetragen. Im selben Maße aber ist die Musik wiederum jenes Medium das zur Annäherung und schlussendlich Aussöhnung der beiden führt. Kohlberg läuft keineswegs Gefahr in hohlen Pathos oder in ein abgedroschenes Melodrama abzudriften, was bei Familiendramen, zumal amerikanischen, eine latente Gefahr birgt. Er ist dieser Gefahr vollends entkommen, indem er es vermag eine traurige wie schöne Metamorphose zwischenmenschlicher Bindungen und Verschachtelungen zu inszenieren, ohne auf die Karte des Überdramatischen zu setzen. Sven Weidner /
Wertung: * * * * *
(5 von 5)
Quelle der Fotos: Senator Filmdaten The Music Never Stopped (The Music Never Stopped) USA 2011 Regie: Jim Kohlberg; Darsteller: J.K. Simmons (Henry Sawyer), Lou Taylor Pucci (Gabriel Sawyer), Cara Seymour (Helen Sawyer), Julia Ormond (Dr. Dianne Daly), Mia Maestro (Celia), Tammy Blanchard (Tamara), Scott Adsit (Dr. Biscow) u.a.; Drehbuch: Gwyn Lurie, Gary Marks nach dem Essay "The Last Hippie" von Dr. Oliver Sacks; Produktion: Jim Kohlberg, Julie W. Noll, Peter Newman, Greg Johnson; Kamera: Stephen Kazmierski; Musik: Paul Cantelon; Schnitt: Keith Reamer; Länge: 104,56 Minuten; FSK: ohne Altersbeschränkung; ein Film im Verleih von Senator Film Verleih; deutscher Kinostart: 29. März 2012
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