01.06.2023

Mystik, Meditation, Naturverbundenheit

Stalker (1979)

Der sowjetische Regisseur Andrei Tarkowski drehte 1979 den Film "Stalker". Vor allem wegen dieses Films musste er kurz darauf ins Exil wechseln. 1986 starb er mit 54 Jahren an Krebs, er erlebte aber noch im Todesjahr die Tschernobyl-Katastrophe und sah darin "die Verwirklichung seiner schlimmsten Albträume", wie es in der Wikipedia heißt. Wer "Stalker" sieht, versteht beides: Im Film sind Brachlandschaften zu sehen, verlassene Industrieruinen, die Natur erkämpft sich ihren Weg zurück in diese Szenerie durch Überwucherung. Es ist im Film ein Sperrgebiet, eine menschenverlassene Zone im Nichts. Hinein darf man nicht. Und doch führt ein Mann, der so genannte Stalker, zwei Männer, einen Schriftsteller und einen Wissenschaftler, in das Gebiet. To stalk bedeutet hier: sich an etwas heranpirschen. Diese Zone, in die die drei Männer gehen, liegt irgendwo, aber nicht in der Sowjetunion, versucht Tarkowski zumindest indirekt darzulegen. Mit dem englischen Begriff Stalker. Mit dem Namen Wallace, der genannt wird. Mit zwei lateinischen, somit nicht kyrillischen Buchstaben auf einer Wand. Es half nichts. Die sowjetische Führung sah es anders, fühlte sich brüskiert: Der Regisseur wurde zur Persona non grata.

"... was es war? Der Fall eines Meteoriten? Der Besuch von Bewohnern des menschlichen Kosmos? Wie auch immer, in unserem kleinen Land entstand das Wunder aller Wunder – die ZONE. Wir schickten sofort Truppen hin. Sie kamen nicht zurück. Da umzingelten wir die ZONE mit Polizeikordons ... und haben wahrscheinlich recht daran getan ... im übrigen – ich weiß nicht, ich weiß nicht ... Aus einem Interview des Nobelpreisträgers Professor Wallace mit einem Korrespondenten der RAI."

Mit diesem Insert im Vorspann fängt der Film an. Wie bei seinem Film "Solaris" (1972) greift Andrei Tarkowski auf eine Science-Fiction-Vorlage zurück, um einen philosophischen Film zu drehen, der auf Mystik setzt und Achtung vor einer höheren Macht predigt. Der Kultur- und Literaturwissenschaftler Hartmut Böhme erkannt einen Zusammenhang der drei männlichen Hauptfiguren mit den drei Stufen der Geschichtsphilosophie Hegels: Für die Wissenschaft steht der Professor, für die Kunst der Schriftsteller und für die Religion der Expeditionsführer, der Stalker. Während der Professor und der Dichter unvorsichtig durch die Landschaft gehen, bittet der Stalker um Ehrfurcht. Dabei sieht das Publikum die Natur, die sich in den Ruinen Platz schafft. Der Stalker respektiert die Natur, wie sie sich zurück ins Leben kämpft. Dass Tarkowski darauf großen Wert legt, erkannt man am Wechsel von Schwarz-Weiß zu Farbe, gelbstichiger Farbe, aber Farbe, als die Drei die Zone betreten und in der Flora sind. Der Stalker ist mit der Natur verbunden, erkennt deren Größe und bewundert sie.

Die Vorlage ist der Roman "Picknick am Wegesrand" (1971) von Arkadi und Boris Strugazki; die beiden Brüder schrieben auch das Drehbuch zu "Stalker", wobei sie viel veränderten. Vor allem: Aus einer Kugel in der Zone, die Wünsche erfüllt, wurde ein Zimmer in der Zone, das Wünsche erfüllt, das Ziel der drei Männer. Dies ist zu dick aufgetragen, da das Mystische des Films auch so funktioniert, kulminierend in der Tochter des Stalkers am Ende des Films, das mit Telekinese auf einem Tisch Gläser zu verschieben in der Lage ist. Auch hier gibt der Film Interpretationsmöglichkeiten, aber Tarkowski verweigerte sich denen. Er erklärte über das Mädchen: Die Zukunft liege in den Kindern.

Was von dem Film bleibt, ist das Religiöse der Naturverehrung und die damit einhergehende spirituelle Mystik. Vor allem eines zeichnet den Film aus: seine Aura. Man ist gebannt von der Erhabenheit des Films, das Zusehen wird zu einer kraftvollen Art Meditation.  

Michael Dlugosch / Wertung: * * * * (4 von 5)



Filmdaten

Stalker (1979)
(Stalker)

Sowjetunion 1979
Regie: Andrei Tarkowski;
Darsteller: Aleksandr Kaidanowski (Stalker), Anatoli Solonitsyn (der Schriftsteller), Nikolai Grinko (der Professor), Alisa Freyndlikh (Frau des Stalkers), Natalya Abramova (Tochter des Stalkers) u.a.;
Drehbuch: Arkadi und Boris Strugazki; Produzentin: Aleksandra Demidova; Kamera: Aleksandr Kniaschinski; Musik: Eduard Artemev; Schnitt: Lyudmila Feyginova;

Länge: 162 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; teilweise Schwarz-Weiß



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Zitat

"Was soll das denn sein - wo du doch Schauspieler sein kannst? Da will man doch nicht Arzt werden!"

Die Reaktion der schauspielernden Eltern von Michael Verhoeven (13. Juli 1938 - 22. April 2024) auf seinen Wunsch, Medizin zu studieren - er wurde Regisseur ("o.k.", "Die weiße Rose"), Schauspieler ("Das fliegende Klassenzimmer" (1954), "Der Pauker") und Arzt

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