"Schultze gets the Blues" ist die Geschichte über eine Infektion und
den anschließenden Krankheitsverlauf. Schultze (Horst Krause) infiziert sich des nachts, über das Radio.
Weil er nichts hören will, über die Häufigkeit von Lungenkrebs bei Bergarbeitern,
dreht er seinen gewohnten Sender weg und stößt so auf seltsam fremde, seltsam vertraute Klänge.
Aus der Musik hört Schultze sein Instrument heraus, das Akkordeon, doch
was der Mann im Radio mit der vertrauten Quetschkommode macht,
das ist pure Exotik. Von diesem Moment an wird der wortkarge
Ostdeutsche den Sound der Südstaaten nicht mehr los. Folgerichtig
geht er denn auch bald zum Arzt, doch statt ihn zu behandeln, beichtet
dieser Schultze eine ganz ähnliche Infektion und singt ihm eine Oper
vor.
Autor und Regisseur Michael Schorr hat die kurze Vorgeschichte
und das "Bühnenbild" in langen Kameraeinstellungen und
exemplarischen Szenen aus dem Leben seiner Protagonisten an den
Anfang des Films gestellt: Schultze und zwei befreundete Kollegen
werden in den Vorruhestand geschickt. Die drei reiben sich an
ihrer neu gewonnen Freizeit. Ihr kleiner, anhaltinischer Ort, gelegen
im Schatten der Abraumhalden des Kali-Bergbaus, dümpelt in der
Bedeutungslosigkeit dahin. Wenn überhaupt, dann kommt der
Fortschritt so langsam in dieses Niemandsland, wie sich das
Windrad dreht, einziges Anzeichen für Modernität, das mit der
langsamen Drehung seiner großen Flügel die Zeit in Scheiben
schneidet.
In diesem Umfeld präsentiert uns Schorr zwei Menschentypen: die
konservativen Fatalisten und die suchenden Sehnsüchtigen. Die
"Das-haben-wir-schon-immer-so-gemacht-Fraktion" lebt ihren Trott,
ohne ihn zu hinterfragen. Auch Schultze ist zunächst ein typischer
Vertreter dieser Spezies: er angelt, wäscht im Schrebergarten seine
Gartenzwerge ab und spielt im Musikverein seit über dreißig Jahren
die immer gleiche Polka. Doch die Infektion mit der Cajun-Musik,
jenem Amalgam verschiedenster Musikstile, die europäische
Einwanderer in die Südstaaten der USA mitbrachten, schlägt Schultze
radikal der anderen Gruppe, den Sehnsüchtigen zu. Kontakte zu
Schicksalsgenossen, wie dem schon erwähnten Arzt, der
Altenheiminsassin Frau Lorant, die sich tapfer gegen die
Gängelungen des Wach-, nein, des Pflegepersonals wehrt oder Lisa,
die viel lieber in Andalusien Tänzerin wäre, als Aushilfskellnerin an
der Saale, bestärken Schultze in seiner Suche, helfen ihm sich zu
outen und sein Schicksal anzunehmen.
Bis zu Schultzes Reise in die
Staaten trägt der Film deutlich die Handschrift des Dokumentarfilmers Schorr. Die
Bewohner einer Kleinstadt reagieren auf das Fremde und das Team hält die Kamera drauf.
"Überhöhte Realität" nennt der Regisseur das. Doch im zweiten
Teil kippt der Film, sickert zunehmend das Unwahrscheinliche ein.
Diesen Dreh vom Dokumentarfilm zum Märchen muss der Zuschauer
mitmachen, sonst ist er für den Film verloren. Lässt er sich darauf ein,
kann er miterleben, wie ein Mann in nur wenigen Tagen sein Leben
der Bedeutungslosigkeit entreißt. Schultze gelingt die abenteuerliche
Reise von New Braunfels/Texas bis in die Sümpfe Louisianas,
seinem fremd-vertrauten Sehnsuchtsort. Dass dieses Ende nicht ins
Kitschige abrutscht, verdankt der Film vor allem seinen
hervorragenden Darstellern, allen voran Horst Krause, der mimisch
und gestisch so präsent ist, dass er die Rolle des Schultze auch
ohne seinen - ohnehin geringen - Text füllen könnte.
Regie und Drehbuch: Michael Schorr;
Darsteller: Horst Krause, Harald Warmbrunn, Karl-Fred Müller, Wilhemine Horschig u.a.;
Deutschland 2003; Länge: 110 Minuten;
FSK:
ohne Altersbeschränkung; ein Film im
Verleih von United International Pictures; deutscher Kinostart: 22. April 2004