31. Oktober 2002

Krauses Inferno

Scherbentanz

Jesko (Jürgen Vogel), depressiver, lediglich sein gesellschaftliches Außenseiterdasein ernsthaft pflegender Mitt-Dreißiger, hat Leukämie. Er hat die Krankheit, aber er leidet nicht darunter. Vater Gebhard (Dietrich Hollinderbäumer) und Bruder Ansgar (Peter Davor) versuchen ihn zur ihn möglicherweise rettenden Maßnahme zu zwingen, die Jesko nicht annehmen will - sie bedeutet für ihn eine unerwünschte Konfrontation mit der Vergangenheit: Die lange verschollene und immer noch psychisch kranke, jetzt zudem verwahrloste Mutter (Margit Carstensen), die einst ihre Kinder schlug, wurde vom Detektiv des Vaters wiederentdeckt. Ihr Knochenmark wäre die einzige Chance, Jeskos Blutkrebs zu besiegen. Mit der Familie erneut unter einem Dach leben zu müssen, regt Jesko zum Nachdenken an. Bald zeigt sich: Die äußerlich ehrenwerten Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft haben weit mehr als Jesko selbst Dreck am Stecken. Regisseur Chris Kraus rüttelt an großbürgerlichen Traditionen - und der Zuschauer wankte mit; wäre es nicht des Üblen zu viel, das Kraus im Film präsentiert.

ScherbentanzHiob hat seinen Glauben nie verloren. Eine Wette Gottes mit dem Satan ließ das bis dahin erfüllte Leben des einfachen Mannes des Alten Testaments zusammenbrechen. Ihm wurden Vieh und Knechte genommen; er verlor den Glauben nicht. Er bekam physisch, psychisch und gesellschaftlich peinigende Krankheiten auferlegt; aber er verlor den Glauben nicht. Zum Schluss starben Hiobs Frau und Kinder. Bis zur Grenze des Erträglichen wurde der Schmerz angesetzt; aber der von Gott in Leid Geprüfte verlor seinen Glauben nie.

Bei Regisseur Chris Kraus, sowohl im Film "Scherbentanz" wie auch in Kraus’ gleichnamigem Roman, haben die Protagonisten schon nahezu jeglichen Glauben verloren. Bei ihnen stirbt keiner. Im Gegenteil: Manche von ihnen wünschten dem jeweils anderen, tot zu sein. Oder sich selbst. Der Hiob von Chris Kraus heißt Jesko, und es muss nicht ausgesprochen werden, dass Kraus' Hauptfigur Selbstmordgedanken als seiner Ansicht nach einzigem Ausweg aus der Misere hegt. Die Bilder des Films sagen das ohne wörtliche Hinweise aus; Kraus hat das Medium Film verstanden, und weiß somit, wie man es einsetzt, wenn ein Einzelner Gesellschaftslügen hilflos gegenüber steht, weil er das Truggebäude der perfekten Bürgerfamilie nicht mittragen will. Es erfolgt ein Tanz jenes Jesko auf dem in den Titel von Buch und Film übernommenen metaphorischen Scherbenhaufen; die Katharsis möge beginnen.

Scherbentanz Zu Beginn des Films regnet es in Strömen. Bei Chris Kraus ist Deutschland kein Land des Sonnenscheins, symbolisch gesehen. Man beachte allein: Der deutschen Kinogänger-Spaßgesellschaft wird, so ganz nebenbei, das Grab geschaufelt. In diesen strömenden Regen flüchtet sich Jesko, ihn zieht er der trockenen Luxus-Karosse, in der er eben noch gesessen hat, des durch Erbschaft reichen Bruders zunächst vor. Gerade hat er zur Kenntnis genommen, dass eine Familienfeier abgesagt wurde. Jener Bruder Ansgar sollte, so weit Jesko bekannt, bei der Feier die Firma des Vaters Gebhard übernehmen. Die Feier entfällt, denn Vater und Bruder wagen nicht, die geladenen Gäste mit dem Übel der Familie zu konfrontieren: der wiedergefundenen Mutter, die vom einem Detektiv im Auftrag des Vaters nur gesucht worden war, da ihr Knochenmark möglicherweise Jeskos Leben retten könnte. Indem eine Feier entfällt - der Vater wird später auf die Kosten und vor allem den damit einhergehenden Ansehensverlust zu sprechen kommen - kristallisiert sich bereits zu Anfang des Films versteckt symbolisch die trügerisch oberflächlich aufrecht erhaltene Großbürgertümelei heraus.

Ein Individuum muss sich mit dem Bereich seines Lebens, den es hinter sich gelassen glaubte, erneut auseinandersetzen. Um was sonst geht es als um die sich ach so ehrenwert gebende Familie, die Einzelgänger Jesko längst entlarvt und auf genügend emotionale Distanz gehalten zu haben glaubte, jetzt doch von ihr nicht lassen kann. Ehrenwert also geben sich diejenigen, die den verlorenen Sohn mittels eines Tricks zurücklocken. Geben, das heißt, geben und nehmen, und das Individuum kommt nicht zur erwünschten Ruhe, die es, durch schwerste Krankheit bedingt, gern annähme. Gegeben werden könnte von der Verwandtschaft das weitere Leben, da sie Rat weiß, die Krankheit zu besiegen, genommen des Individuums Hilfe bei der Suche nach der glaubwürdigen Familie, die im Innersten längst zerrüttet ist: Das ist der hervorragend visualisierte Knackpunkt dieses Dramas: Die Unterstützung durch Familienmitglieder ist nichts anderes als pragmatisches Konzept zum Erhalt des bereits Verlorengegangenen, dem Zusammenhalt.

Scherbentanz Regisseur Kraus’ zunächst gelungenes Spiel mit den Möglichkeiten des Mediums Film überreizt er dann, wenn er glaubt, alles noch drastischer vor Augen führen zu müssen, und demzufolge zu dick aufträgt. Mag Jeskos eigene, fast unheilbare Krankheit noch eine gelungene Allegorie auf eben jene Ohnmacht darstellen und das Topos des verlorenen Sohns bei der Rückkehr in den Schoß der Familie raffiniert eingesetzt sein, weil damit der letzte Funken Hoffnung auf Normalzustand sich bald von selbst erledigt, da die Familie sich als tatsächlich durch sich selbst zerstört erweist, so ist die erzählte Konfrontation Jeskos mit der Vergangenheit, die ihre Würde verloren hat, nur noch ein Spiel mit Effekten, die in ihrer Wirkung verloren gehen, da sie den Kennern des Mediums Film doch schon zu altvertraut, gewissermaßen zu altbacken und klischeehaft sind: Die psychisch zerrüttete Mutter buddelt würdelos im Blumenbeet, der Vater bleibt, wie er ist, nur dem Geld - und einer von Jesko enttarnten Geliebten - treu, der verlobte Bruder hat ebenfalls eine Affäre, deren Veröffentlichung er aus Gründen seiner Reputation als Statthalter des Vaters freilich nicht wagt, die Verlobte ihrerseits einen Sex-Partner, denn sie ist süchtig danach, geliebt zu werden, verwechselt aber Zuneigung mit dem Körperlichen, oder besser, sie akzeptiert ihren eingesehenen Irrtum, denn sie akzeptiert die Ausweglosigkeit; aber Hiob Jesko findet zu guter Letzt doch den Glauben wieder, denn er glaubt wieder an seine Stärken, und wie man sie auch für andere einsetzt.

Malade, sehr malade sind die Begebenheiten, die ihm wie dem Zuschauer aufgetragen wurden, dick aufgetragen eben, Kraus schickt beide in ein Dantesches Inferno, hier ein Krauses Inferno, aber letzten Endes ein sehr krauses Inferno.  

Michael Dlugosch / Wertung: * * * (3 von 5)

Quelle der Fotos: Movienet


Filmdaten

Scherbentanz


Deutschland 2002
Regie: Chris Kraus; Darsteller: Jürgen Vogel (Jesko), Margit Carstensen ("Die bitteren Tränen der Petra von Kant", "Sonnenallee"; Käthe, Mutter von Jesko und Ansgar), Nadja Uhl ("Die Stille nach dem Schuss"; Zitrone), Peter Davor (Ansgar), Dietrich Hollinderbäumer (Gebhard, Vater von Jesko und Ansgar), Andrea Sawatzki (junge Käthe), Roxanne Borski (Charlotte), Christian Körner (junger Gebhard / Dirk), David Schwarzenthal (Jesko als Kind), Daniel Veigel (Ansgar als Kind), Monika Hirschle (Stiefi), Ronnie Janot (Bernie), Wolfgang Klapper (Prof. Freundlieb) u.a.;
Drehbuch: Chris Kraus nach seinem gleichnamigen Roman; Produzent: Norbert W. Daldrop; Ausführende Produzenten: Joseph Rau, Monika Kintner; Kamera: Judith Kaufmann; Musik: Jan Tilman Schade;

Länge: 101 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; ein Film im Verleih der Movienet Film GmbH



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"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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