Oktober 2001

"It is a disease because it's out there and we just have to be more aware of it."

Safe

Bekannt wurde US-Regisseur Todd Haynes in Deutschland durch seinen Film "Velvet Goldmine" (1998), eine Hommage an den Glamrock. Nicht in den deutschen Verleih kam leider bisher sein völlig anders gearteter, großartiger Vorgänger "Safe" von 1995. Die Geschichte klingt simpel: Die wohlhabende Carol White ist allergisch. Aber wogegen? Ein Film wie ein Allergietest, - mit einer verstörenden, deprimierenden Diagnose.

Dass Carol allergisch ist, steht außer Frage. Die Frage ist nur: Wogegen? Mit ihrem Mann Greg und dessen Sohn lebt sie 1987 im schicken San Fernando Valley (Los Angeles) in einer Villa, ernährt sich von Obstdiäten, hält sich fit mit Aerobic, und außer, dass sie eine von einem fleißigen Latina-Hausmädchen unterstützte Hausfrau ist, kümmert sie sich ("in my spare time") um die Innenarchitektur, was bedeutet, dass sie teure Möbel bestellt und geschützt mit Plastikhandschuhen Rosen züchtet.
Carols Welt scheint "sicher" zu sein. Das Eigenheim, der Beruf des Mannes, die gesellschaftliche Position, der Kreis ihrer Freundinnen: Mit amerikanischer Perfektion funktioniert hier alles und jeder, - so dass es nebensächlich ist, ob Carol gern mit Greg schläft, ob sie sich mit ihm oder ihrer besten Freundin unterhalten kann, ja, wie es ihr überhaupt geht.

Carol funktioniert in einer Mischung aus Unsicherheit und dezenter Upperclass-Arroganz und sie könnte weiterfunktionieren, hätte sie nicht einen kleinen Husten, der sich im Auto auf einem vielbefahrenen Highway in einen Asthma-Anfall verwandelt. Ihr Hausarzt kann keine Anzeichen von Krankheit entdecken, ein Allergologe diagnostiziert eine Milchallergie (Milch ist ihr Lieblingsgetränk), aber auch die Laktose meidende Carol übergibt sich im Odeur von Gregs Deo und kollabiert beim Betreten einer chemischen Reinigung. Ein Psychiater stürzt Carol eher in weitere Verwirrung, als ihr zu helfen.

Das einzige, was noch zu ihr durchdringt, sind Erklärungsansätze der New-Age-Esoterik. Allergisch sei sie auf das Zwanzigste Jahrhundert, das mit seinen tausenden Giften die Immunabwehr zum Erlahmen bringe, bis der kleinste Auslöser eine Katastrophe bedeute. Nach der Übersiedlung ins "Wrenwood Center", einem in der Wüste gelegenen Sanatorium unter der Leitung eines Guru-ähnlichen HIV-Positiven, erfährt Carol, dass die Ursache für ihre Allergien nur in ihren höchst eigenen negativen Schwingungen begründet ist. Selbst nach Wochen geht es ihr nicht besser, deshalb beschließt sie in einen völlig hermetischen Beton-Iglu umzuziehen. Dort, allein mit der Sauerstoffflasche, sieht sie in den Spiegel und versichert sich: "I love you, I love you".

Der Film "Safe" lief 1999 bei ARTE im Rahmen eines Themenabends mit dem Titel: "Macht uns die Luft krank?" Auf den ersten Blick geht es in "Safe" sicherlich um Luftverschmutzung, aber nicht nur...

Vom (homosexuellen) Regisseur Todd Haynes wird kolportiert, der Film handle vom Aids-Zeitalter. Damit aber hat Haynes noch nicht den symbolischen Gehalt und den interpretatorischen Spielraum erwähnt, den dieser nüchterne, unspektakuläre Film über eine Allergikerin mit seinem messerscharfen Blick für die Details einer so modernen wie kranken Zivilisation insgesamt bietet.
Als "horror movie of the soul" wird "Safe" in der "Internet Movie Database" bezeichnet, und wenn man sich auf die Welt und den Leidensweg von Carol (gespielt von einer unübertreffbaren Julianne Moore) einlässt, versteht man nach wenigen Einstellungen, was gemeint ist:

Carol verliert sich in Landschafts- oder Wohnungs-Totalen, manifest wird sie (oder ihr Gefühl) eher durch die düstere synthetische Musik als durch die souveräne Kamera, die durch analytisch kühle Distanz fasziniert und den Zuschauer ohne jede Effekthascherei im Bann hält. Mit wenig Aufwand liefern Bild und Ton ein adäquates Environment für das Verlorensein in einer perfekten Welt und den Absturz mitten im Herzen der Sicherheit.

"Safe" handelt von der Sicherheit in einer versicherten Upperclass-Gesellschaft, deren höchste Werte Erfolg, Leistung und Geld sind und deren Lebens-"Management" sich in klinisch sauberen Räumen und menschlich sterilen Beziehungen erschöpft. Die Luft auf den Straßen ist voller Abgase, die Herstellung von Carols Dauerwelle kommt einem chemischen Grossangriff gleich, aber ersticken tut Carol auch an der Geburtstagparty ihrer Freundinnen. Menschliche Beziehungen beschränken sich auf Floskeln, für persönliche Gespräche steht kein Vokabular zur Verfügung, beim Todesfall in der Familie wird die Diät gewechselt, - das wird schon helfen. Die fragile Carol fällt geradezu aus allen ihren Bezügen, doch das Sicherheits-Netz ist eher eine Falle. Da ihr Leiden an einer sterilen Gesellschaft von derselben tabuisiert wird, muss sie es auf die "Umwelt" projizieren. Ihre deklarierten Helfer sind Scharlatane, sie greifen nach "Umwelt-Opfern" lediglich, um Geld aus ihnen herauszuholen. Falls die schwer kranke Carol überhaupt überleben sollte, ist eine psychische Rettung kaum in Sicht. Nicht bei sich und nicht bei anderen. Sie sitzt in der selbstgewählten Sicherheit ihres Beton-Iglu, nicht nur weil sie vor Abgasen flieht, sie flieht auch vor den Menschen. Carols Sicherheit ist die der absoluten Isolation; das Ende der Nähe. Und wenn sie sich das "therapeutisch" verordnete "I love you" zuflüstert, dann weiß sie nicht einmal, zu wem sie spricht.

Wie auch "American Psycho" (2000) schildert "Safe" rückblickend eine abgründig-tragische menschliche Existenz der US-amerikanischen Upperclass in den Achtziger Jahren. Es scheint, als läge gerade in dieser Dekade ein Schlüssel für neueste prägende gesellschaftliche Entwicklungen - auch in Europa. Und es scheint, dass nicht zuletzt "Safe" Zeugnis bitterer Wahrheiten ist...

Bliebe zu fragen, warum ein Meisterwerk wie dieses nicht in die deutschen Kinos gelangen konnte (oder auf den Videomarkt) und bliebe zu wünschen, dass dieses Versäumnis bald nachgeholt wird! Mit allerbesten, dringlichsten Empfehlungen!  

Andreas Thomas / Wertung: * * * * * (5 von 5)



Filmdaten

Safe
(Safe)

GB / USA 1995
Regie & Drehbuch: Todd Haynes;
Kamera: Alex Nepomniaschy; Schnitt: James Lyons; Musik: Brendan Dolan, Ed Tomney; Produzent: Ted Hope;
Darsteller: Julianne Moore (Carol White), Peter Friedman (Peter Dunning), Xander Berkeley (Greg White), Susan Norman (Linda), Kate McGregor-Stewart (Claire), Mary Carver (Nell), Steven Gilborn (Dr. Hubbard), April Grace (Susan), Peter Crombie (Dr. Reynolds), Ronnie Farer (Barbara), Jodie Markell (Anita), Lorna Scott (Marilyn), James LeGros (Chris), Dean Norris (Mover) u.a.

Länge: 119 Minuten; Farbe.

Auszeichnungen:
Boston Society of Film Critics Awards 1995 (Beste Kamera); Independent Spirit Awards 1996 (Beste Regie, Beste weibliche Hauptrolle, Bestes Drehbuch); Amerikanischer Independent-Preis des Seattle International Film Festival 1995 (Todd Haynes).



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