20.03.2001

Roter Drache (1986)

Die Figur des Hannibal Lecter ist auf dem besten Wege, ein moderner "Dracula" zu werden. In den Verfilmungen von Thomas Harris' Romanen "Das Schweigen der Lämmer" und "Hannibal" drückt Anthony Hopkins dem Kannibalen mit Doktorwürden seinen Stempel auf. Aber auch der erste Hannibal-Lecter-Roman mit dem Titel "Roter Drache" wurde bereits verfilmt. Unter der Regie von Michael Mann (u.a. "Der letzte Mohikaner" (1992), "Heat" (1995), "Insider" (1999)) hat der geniale Psychopath seinen ersten Auftritt - dargestellt vom Briten Brian Cox.

Der größte Triumph des FBI-Agenten Graham war zugleich sein letzter: Um den gefährlichen Psychopathen Lecktor (in diesem Film schreibt er sich tatsächlich so) zu fassen, musste er lernen, zu denken wie dieser. Diese Methode hatte Erfolg - aber auch einen hohen Preis, denn Graham wird die Geister, die er rief, nicht mehr los. Er quittiert den Dienst und zieht sich mit seiner Familie zurück. Jahre später bittet ihn sein ehemaliger Kollege Crawford um Hilfe, denn erneut geht ein Serienmörder um. Bei Vollmond bricht die "Zahnfee" (so genannt wegen seines markanten Gebisses) in Häuser ein und schlachtet ganze Familien ab. Ein Monat bleibt den Ermittlern, den Killer zu finden, bevor dieser erneut zuschlägt. Graham willigt ein, zu helfen. Um sich in die Psyche des Killers einzufinden, trifft er sich erneut mit seiner Nemesis, Dr. Lecktor...

In Grahams Gesprächen mit Lecktor wird deutlich, dass diese beiden Figuren sehr viel gemeinsam haben. Ist Graham, der in der Lage ist, die Phantasien seiner psychopathischen Gegenspieler nachzuempfinden, nicht genauso verrückt wie Lecktor? Die Ähnlichkeit wird besonders in ihrem ersten Aufeinandertreffen deutlich: Graham und Lecktor sitzen sich gegenüber, nur durch die Gitterstäbe von Lecktors Zelle voneinander getrennt. Bei der Montage von Schuss / Gegenschuss fällt auf, dass die Gitterstäbe exakt an der gleichen Stelle bleiben - eine verblüffende Symmetrie.

Bei der Betrachtung der Mordschauplätze und der Beweismittel im "Zahnfee"-Fall versetzt sich Graham immer tiefer in die Psyche des Gejagten und tatsächlich kommt er dem Killer auf die Schliche. Die "Zahnfee", das findet Graham heraus, möchte bewundert werden, denn die Opfer werden mit Spiegelscherben in ihren Augen gefunden, in denen sich der Killer spiegelt. Seine ganze Phantasie bezieht sich auf das Sehen. Während der Killer, ein hochgewachsener, leicht entstellter, hochintelligenter und sensibler Mann namens Dolarhyde (man beachte auch den zweiten Teil seines Namens), sich in die blinde Reba verliebt, fehlt Graham ein entscheidender Hinweis. Die Zeit läuft ab und noch einmal betrachtet er die Familienvideos der beiden bisher ermordeten Familien...

Lehnt Jonathan Demme sein "Schweigen der Lämmer" der Bildsprache des Gothic-Horrors an, verleiht Mann seinem Film seine typische, stilisierte und sterile Optik. In seiner Symmetrie, seinen klaren Strukturen und der kalten Farbgebung erinnert der Film manchmal an Kubricks "Uhrwerk Orange". Bügeln andere, weniger begabte Regisseure, ihre Filme mit einem solchen Stil gerne allzu glatt, schafft es Mann, wunderschöne, aber zugleich sehr beunruhigende Bilder zu malen. Sein "Manhunter" ist voller Gänsehaut-Momente, die der geneigte Betrachter nicht so schnell vergessen wird. Sein Thema "Was ist Wahnsinn?" transportiert er auch auf die Bildebene.

Ist "Das Schweigen der Lämmer" recht streng dem Hollywoodschen Gut/Böse-Schema verpflichtet (man denke an die Darstellung des Killers Jamie Gumb), bleiben in Manns Film sowohl Dolarhyde als auch Graham stets ambivalente Charaktere. Tom Noonans Darstellung des liebesbedürftigen Killers ist großartig und lässt den Zuschauer ein ums andere Mal Empathie für diesen tragischen Charakter empfinden. Und dass Grahams Psyche echte Abgründe verbirgt, zeigt sich in einer erschütternden Szene kurz vor Ende des hierzulande leider noch unveröffentlichten Director's Cut: Graham besucht die Familie, die Dolarhyde als nächstes Opfer auserkoren hatte. Auf die Frage, was er denn wolle, antwortet Graham: "Ich wollte Sie nur sehen." Der Zuschauer erkennt: Auch in diesem Graham lauert eine Bestie. Der Unterschied zwischen ihm und Lecktor und Dolarhyde: Er ist nicht verrückt. Doch macht das Graham nicht noch viel gefährlicher?

Eine Figur kam bisher zu kurz: Dr. Hannibal Lecktor. In gerade einmal zehn Minuten Bildschirmpräsenz versprüht der Brite Brian Cox mehr diabolisches Flair als Anthony Hopkins in zwei Filmen. Cox spielt den Kannibalen unterkühlter als Hopkins und trifft damit genau den Ton von Manns Film, der dem deutlich überbewerteten und eher bauchzentrierten "Schweigen der Lämmer" mehr als einen Schritt voraus ist.  

Oliver Nöding / Wertung: * * * * * (5 von 5)



Filmdaten

Roter Drache (1986)
(Manhunter)

deutscher Alternativtitel: Blutmond

USA 1986
Regie: Michael Mann; Kamera: Dante Spinotti; Produzent: Richard Roth; Drehbuch: Michael Mann nach dem Roman von Thomas Harris;
Darsteller: William Petersen (Will Graham), Kim Greist (Molly Graham), Joan Allen (Reba), Brian Cox (Dr. Hannibal Lecktor), Dennis Farina (Jack Crawford), Stephen Lang (Lounds), Tom Noonan (Francis Dolarhyde) u.a.

Länge: 119 Min. (Director's Cut: 123 Min.), FSK: ab 16 Jahren.



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