März 2002

Der blinde Fleck des Westens


Reise nach Kandahar


Reise nach Kandahar Einen Spielfilm zu drehen, um die Welt auf das Leid der afghanischen Bevölkerung aufmerksam zu machen, brauchte noch einen Aufhänger, wozu sich die Sonnenfinsternis im August 1999, ein Natur- und Medienereignis für die ganze Familie, anbot. Mittlerweile hat sich auch George W. Bush "Reise nach Kandahar" angesehen, um sich über Afghanistan zu informieren. In der Art eines Roadmovies mit quasi-dokumentarischen Elementen zeigt der iranische Regisseur Mohsen Makhmalbaf, wie sich die afghanische Exiljournalistin Nafas auf den strapazenreichen Weg in ihre Heimat macht, um ihre Schwester davon abzuhalten, sich, wie brieflich angekündigt, zu diesem prägnanten Zeitpunkt wegen der immer unerträglicheren Verhältnisse umzubringen.


Schon der Weg ins Grenzgebiet zu ihrer alten Heimat hat Nafas (Niloufar Pazira) viel Überzeugungskraft und Zeit abverlangt. Die Etappe über die Grenze von Persien nach Afghanistan legt sie nach ausgiebiger Verhaltensinstruktion und Warnung vor Minen getarnt in einem klapprigen Kleinlaster mit einer Großfamilie zurück, welche sich zwar nach außen nicht die Blöße geben will, eine unverhüllte Frau mitzuführen, innerlich aber bald den Wunsch nach Heimkehr aufgibt. In beständiger Gefahr entdeckt zu werden, wird bald ein geschäftstüchtiger Knabe, der in der Koranschule versagt hat, ihr Führer, bald gerät sie an einen undurchsichtigen Medizinmann (Hassan Tantai), der das Konzept der Schlüssellochmedizin in landesüblicher Manier nutzt. Es geht vorbei an zwei russischen Ärztinnen, deren Aufgabe, auf dem Luftwege zugeteilte Beinprothesen den Bedürftigen anzupassen, nicht nur vom Geschäftssinn der Verkrüppelten hintertrieben wird. Je näher Nafas der Taliban-Hochburg Kandahar kommt, desto gefährlicher wird ihr Weg. Doch die Zeit drängt.

Afghanistan, die Heimat des Philosophen Avicenna, wurde im neunzehnten Jahrhundert zu einem Pufferstaat zwischen russischer und britisch-indischer Einfluss-Sphäre. Die innenpolitisch schwache Monarchie wurde 1973 eine proto-kommunistische Volksrepublik, doch auch die 1979 zur Hilfe gerufenen Sowjets konnten die Islamisten nicht aufhalten und mussten sich bis 1989 vollständig zurückziehen; der Krieg, gespeist durch Gegensätze der Stämme und Volksgruppen, hielt an. Zwar konnte 1992 eine islamische Republik ausgerufen werden, doch schon bald gewann eine neue Macht immer mehr Einfluss. In Quete und anderen paschtunischen Städten auf pakistanischer Seite wurden viele arme Afghanen in saudisch und us-amerikanisch finanzierten Koranschulen auch militärisch ausgebildet und nannten sich die Taliban, zu deutsch "Studenten". Diese eroberten sukzessive Afghanistan und führten die absolute Rechtlosigkeit der Frauen ein, welche nur noch in männlicher Begleitung und durch eine sogenannte Burka bekleidet überhaupt das Haus verlassen durften.

Etwa sieben Jahre hielt dieses Leid an, den Vergleich mit was auch immer ziehe jeder selbst. Die Staatengemeinschaft und die freie Presse nahmen es kaum zur Kenntnis und zogen keine Konsequenzen. Ost und West hatten finanziell von direkten und indirekten Waffenverkäufen, insbesondere den menschenverachtenden verstümmelnden Landminen, an die Bürgerkriegsparteien profitiert und eines der ärmsten Länder noch ärmer gemacht. Nach Angabe des Regisseurs beruhe der Film auf einer wahren Begebenheit. Als der Film im Mai 2001 beim Filmfestival in Cannes lief, soll Makhmalbaf von Journalisten gefragt worden sein, warum er kein wichtigeres Thema gewählt habe. Es ist zutiefst peinlich, hat aber eine strafende Gerechtigkeit, dass erst jene Terroranschläge Anlass zur Beseitigung des Talibanregimes wurden. Apropos Terrorismus: Nach verlässlichen Quellen ist Schauspieler Hassan Tantai identisch mit David Belfield, jenem zum Islam übergetretenen Afroamerikaner, der 1980 in der persischen Botschaft in Washington den letzten Kritiker an Chomeinis Fundamentalismus ermordete.

Es gehörten viel Idealismus und Engagement dazu, diesen Film zu drehen; und schon die Bildwelt belohnt genug, auch mal einen nicht spannenden Film und dann noch mit Untertiteln zu betrachten.
Man mag dem Film einiges vorwerfen, etwa den geringen Informationsgehalt über den geschichtlichen Hintergrund oder dass die Zone der totalen Sonnenfinsternis zwar längs durch ganz Persien - wo der Film ja gedreht wurde - zog, Afghanistan und damit Kandahar jedoch nicht berührte. Doch die Sonnenfinsternis ist mehr als nur ein Event für halb gebildete Europäer. Sie ist Symbol dafür, dass alle Menschen auf einem Planeten unter derselben Sonne leben. Sie veranschaulicht die anhaltende Dunkelheit, welche die Taliban den afghanischen Frauen auferlegten, und sie versinnbildlicht, wie groß der blinde Fleck des Westens ist, solange im Ausland nur die Menschenrechte, aber keine wirtschaftlichen Interessen verletzt werden.

 
Michaela Katzer / Wertung: * * * (3 von 5)

Quelle der Fotos: Movienet Film


Filmdaten

Reise nach Kandahar
(Safar e Ghandehar)

Frankreich / Iran 2001
Regie: Mohsen Makhmalbaf;
Darsteller: Niloufar Pazira (Nafas), Hassan Tantai (Tabib Sahid), Sadou Taymouri (Khak) u.a.; Länge: 85 Minuten; FSK: ab 6 Jahren, OmU.

Auszeichnungen:
Filmfestspiele Cannes 2001 - Selection Officielle (Wettbewerbsfilm): Preis der Ökumenischen Jury;
UNESCO-Preis - Fellini-Medaille in Gold Für das Filmwerk von Mohsen Makhmalbaf und sein Engagement für afghanische Frauen.




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"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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