17.02.2010
Postcard to Daddy
Sexueller Missbrauch ist ein Thema, das seine Aktualität traurigerweise wohl nie verliert. Der Schock über das Ausmaß der sexualisierten Gewalt am Berliner Canisius-Kolleg und in anderen kirchlichen Einrichtungen führt dieser Tage zu immer neuen Meldungen in den Medien. Nach deutschem Strafrecht verjähren die Taten nach gewissen Fristen, doch die Opfer leiden ein Leben lang. Michael Stock wurde von seinem eigenen Vater missbraucht. Für seinen Dokumentarfilm hat er die Geschwister und seine Mutter damit konfrontiert, was sich in der Familie acht Jahre lang hinter geschlossenen Türen abspielte. Entstanden ist ein schonungsloser Film, der nicht anklagt, aber auf eindringliche Weise zeigt, wie sexueller Missbrauch in der Kindheit die Psyche eines Menschen aushöhlen und sein Leben deformieren kann.
Eine vielleicht nicht überschäumend glückliche, aber keinesfalls furchtbare Ehe; eine ganz normale Familie aus dem linksliberalen Milieu, drei Kinder, zwei Jungen, ein Mädchen. Mithilfe alter Fotografien versucht Michael Stock, ein Bild der Welt zu zeichnen, aus der er stammt. Irritierend vertraut wirkt diese Mittelschichts-Normalität; den Mitgliedern dieser Familie würde man bei einer Begegnung auf der Straße nicht ausweichen – warum auch? Leise tastet sich der Film an das schmerzhafte Geheimnis heran, das Michael Stock in seiner Kindheit und Jugend keinem mitzuteilen wagte. In seiner Heimat im Schwarzwald spricht er mit seiner Schwester Anja und dem Bruder Christian. Warum hat sich der Vater nur an ihm, dem jüngsten der drei Kinder, vergangen? Welche Erinnerungen haben die Geschwister an die gemeinsame Kindheit? Schwester Anja, mittlerweile Sozialarbeiterin und selbst Mutter von zwei Söhnen, will nichts mehr vom Vater wissen. Michaels älterer Bruder Christian hingegen, ein Politologe und Redakteur, hält weiterhin den Kontakt aufrecht. Wie bringt er den Missbrauch mit dem Bild des "guten Vaters", wie er ihn zu kennen glaubt, zusammen? Dies sind nur einige der Fragen, denen Michael Stock nachgehen will – und die ihn immer weiter zurückführen, in die Tiefen der eigenen traumatischen Vergangenheit. Drogenexzesse, Promiskuität, schließlich die Infektion mit dem HI-Virus – so ist Michaels Leben verlaufen, es steht im krassen Gegensatz zur bürgerlichen Lebenswirklichkeit der Geschwister. Nach einem Schlaganfall im Jahr 2007 reist Stock mit seiner Mutter nach Thailand, wo weitere Aufnahmen für diesen Film entstanden. Hier, im geschützten Rahmen eines sonnigen Urlaubs am Strand, findet eine Annäherung zwischen Mutter und Sohn statt; gleichzeitig aber spürt man in jedem einzelnen Dialog, wie quälend präsent die Missbrauchserfahrung für Stock auch nach all den Jahren geblieben ist. Als Stock der Mutter erklärt, dass er die Filmaufnahmen seinem Vater zeigen möchte, reagiert diese zurückhaltend. Eine "Postcard to Daddy" soll es sein, die er aus dem Urlaub mitbringt, denn sein Ziel ist nicht Rache oder Anklage, sondern Annäherung, vielleicht auch Aussöhnung. Schließlich gelingt es ihm, den Vater, der den Missbrauch nicht abstreitet, vor laufender Kamera zu interviewen. Michael Stocks autobiographischer Film ist ein außergewöhnliches Dokument einer seelischen Verwundung, erzählt aber auch von der kraftvollen Eigenwilligkeit, mit der der Regisseur darum kämpft, sein Trauma zu bewältigen. Der Film ergänzt die aktuelle Debatte um die Perspektive eines Opfers, die konsequent durchgehalten wird, doch ohne jemals den Täter zu stigmatisieren. Es ist nicht so, dass Stock in der Diskussion um Verjährungsfristen auf irgendeine Weise Position bezieht, dass er streitet, fordert oder anprangert. Vielmehr zeigt er eine private Geschichte, offenbart eine innere Verletzung, die nicht einfach zu schmerzen aufhört, selbst wenn eine Auseinandersetzung damit stattgefunden hat. Aufschlussreich auch die Entstehungsgeschichte des Films – als Fernsehfilm für die Öffentlich-Rechtlichen gedacht, wurde er schließlich abgelehnt, da der Versuch einer Versöhnung mit dem Vater auf den zuständigen Redakteur "unappetitlich" wirkte. Jetzt läuft er auf der Berlinale. "Postcard to Daddy" ist ein gewagter Selbstversuch, ein mit einfachen Mitteln gemachter, mutiger Film, der viele sensible Zuschauer verdient. Jasmin Drescher
Quelle der Fotos: Edition Salzgeber Filmdaten Postcard to Daddy Deutschland 2010 Regie & Drehbuch: Michael Stock; Produktion: Hubert Schäfer; Produktion: Michael Stock; Kamera: Michael Stock; Musik: Michael Stock, Josef Tieks; Länge: 85 Minuten; ein Film in der Sektion Panorama der Berlinale 2010; deutscher Kinostart: 27. Mai 2010
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