21.12.2017
Oh Boy
In den Tag hinein treiben kann Niko Fischer (Tom Schilling) besonders gut. Sein Jurastudium hat der junge Mann Ende Zwanzig schon vor rund zwei Jahren an den Nagel gehängt, lebt aber weiterhin von den monatlichen 1000-Euro-Überweisungen seines Vaters. Als dieser vom Studienabbruch seines Sohnes erfährt, stellt er die finanzielle Unterstützung ein und schmeißt Niko ins kalte Wasser. An einem Tag und einer Nacht in seiner Heimatstadt Berlin trifft der Gebeutelte einige merkwürdige Menschen wie einen blasierten Psychologen, eine fast vergessene Schulkameradin oder humorlose U-Bahn-Kontrolleure. Ohne sein Zutun stolpert Niko in skurrile Situationen am Straßenrand und gewinnt schlussendlich – zumindest für den Moment – eine andere Perspektive auf sein Leben.
Es ist ohne Frage Tom Schilling, der "Oh Boy" im Innersten zusammenhält. Als Bindeglied zwischen den einzelnen Episoden, als gereifter Schauspieler und als Prototyp einer Generation desorientierter Großstädter in ihren Zwanzigern ist der Hauptdarsteller das Zentrum des Debütfilms. Doch auch neben dem meistens teilnahmslosen und defensiven, irgendwie abwesenden und dennoch im Mittelpunkt stehenden Protagonisten brilliert die Tragikomödie mit einem tollen Ensemble: Ulrich Noethen als verständnisloser Vater, Justus von Dohnányi als aufdringlicher Nachbar, Marc Hosemann als halbwegs gescheiterter Schauspieler oder Michael Gwisdek als gesprächiger Mann in einer Bar – in punkto Schauspielkunst hinterlässt "Oh Boy" bis in die Nebenrollen einen bleibenden Eindruck. Unterstützt wird das Ensemble von den pointierten Dialogen und dem guten Gespür für Situationskomik aus dem Drehbuch des Regisseurs, zu dessen Inspirationsquellen auch persönliche Erlebnisse zählen: Dass Gerster die Blaupausen für seine Figuren und deren Lebensansichten aus eigener Anschauung kennt, erweist sich als Pluspunkt seines Erstlings. Wie bei jedem gelungenen Film sind es indes nicht die Darsteller und das Drehbuch alleine, die "Oh Boy" auszeichnen. Jan Ole Gerster, der als Assistent von Wolfgang Becker und Absolvent der dffb sein Handwerk erlernte, beweist mit seinem ersten Kinospielfilm einen nie überzogenen, aber durchweg sichtbaren Stilwillen. Die eleganten Schwarzweiß-Bilder von Kameramann Philipp Kirsamer und der passende wie beschwingte Jazz-Soundtrack von Cherilyn McNeil und "The Major Minors" – eine Spur "Manhattan" (Woody Allen, USA 1979) – liefern die ästhetische Form für die unverbindlich mäandernde Geschichte Nikos. Inszenatorisch wirkt "Oh Boy" reifer und eigenständiger als andere Erstlingswerke, was unter anderem an der episodenhaften und gewissermaßen rauen Erzählstruktur liegt, die das Weitere immer offen lässt und die der Regisseur mit leichter Hand zu einem Ganzen verwebt. Wie Niko flaniert auch der Film durch Berlin, wobei die verschiedenen Episoden sehr ausgewogen zwischen Stimmungsbild und Satire, Tragik und Komik, Alltäglichem und Zuspitzungen balancieren. Allein schon dadurch, dass Jan Ole Gerster die Hauptstadt abseits schicker Vorzeige- und Hotspot-Kulissen ins Bild rückt, avanciert sein Film auch zu einem waschechten Berlin-Film. Ob es Niko auf ein Zweiter-Weltkriegs-Filmset, zu einer verqueren Performance in einem Offtheater oder in eine nächtliche Bar verschlägt, immer bleibt Berlin als Handlungsort maßgeblich in der Erzählung manifestiert. Es ist schwer vorstellbar, die Figuren und Geschichten aus "Oh Boy" anderswo zu verorten, was aber nicht heißt, dass der Film in Hamburg, Köln oder anderswo unverständlich ist. Das Kunststück des Regisseurs ist die zwischen Klischees und feinen Beobachtungen ausgewogene Darstellung der Großstadt, mit der ihm schlussendlich ein sehr treffendes Porträt Berlins gelingt. "Oh Boy" arbeitet zwar mit Figuren und Situationen, die nicht selten nahe an Karikaturen und Parodien gebaut sind, macht sich aber zu keiner Zeit über die Schicksale der Figuren lustig. Auch hier gelingt Jan Ole Gerster eine gelungene Gratwanderung: Das Tragische und das Komische aus seinem stets unterhaltsamen, aber durchaus tiefgründigen Film halten sich über die gesamte Laufzeit die Waage, wobei wiederum das nuancierte Spiel von Tom Schilling von entscheidender Bedeutung ist. Bevor "Oh Boy" in einem emotional bewegenden Ende mündet, gibt der starke Debütfilm einen guten Einblick in das Lebensgefühl der großstädtischen Slacker und Herumtreiber, denen es unter Umständen nicht an Talent oder Qualifikationen, aber in vielen Fällen an einer Zielrichtung mangelt. Wenn die theoretische Vielzahl der Lebenskonzepte auf das Erwerbsleben und die gesellschaftliche Struktur der Erwartungshaltungen trifft, kann schnell ein passiver und abwartender Typ wie Niko Fischer dabei herauskommen. Und weil gerade in Berlin viele solcher Typen flanieren, ist "Oh Boy" in dieser Stadt besonders gut aufgehoben – gleichwohl dürfte die prototypische Hauptfigur auch Nicht-Berlinern bekannt vorkommen. Diese Filmkritik ist zuerst erschienen bei fluter.de. Christian Horn /
Wertung: * * * * *
(5 von 5)
Filmdaten Oh Boy Titel für den englischsprachigen Markt: A Coffee in Berlin
Deutschland 2012 Länge: 85,07 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; schwarz-weiß; ein Film im Verleih der X Verleih AG; deutscher Kinostart: 1. November 2012
Artikel empfehlen bei:
Hilfe
|
|