16.02.2013
Der Zug ist abgefahren

Nachtzug nach Lissabon


Nachtzug nach Lissabon: Jeremy Irons "Wir reisen zu uns selbst, wenn wir an einen Ort reisen." Zu dieser tiefschürfenden Erkenntnis gelangt Raimund Gregorius (Jeremy Irons) dank Amadeu Inácio de Almeida Prado. Alles, was den gealterten Lateinlehrer an einem Berner Gymnasium und den jungen Arzt und Dichter (Jack Huston) aus dem Lissabon zur Zeit der Militärdiktatur verbindet, ist ein Buch. Den vergilbten Band findet der Leitcharakter von Bille Augusts schwärmerischer Bestseller-Verfilmung im vergessenen Mantel einer Fremden, die er eines verregneten Tages auf dem Arbeitsweg vor dem Selbstmord bewahrt. Aus dem von Amadeu verfassten Werk fällt ihm ein Ticket entgegen: für den "Nachtzug nach Lissabon", der ihn auf eine Reise in die Vergangenheit trägt.

Wohin den durch den zweifachen Fund aus seinem Alltagstrott gerissenen Professor die Fahrt im titelgebenden Vehikel führt, verkündet noch bevor der Zug einfährt ein Zitat Amadeus, dem noch viele folgen. Sie begleiten als Hintergrundmonolog den sich vor der pittoresken Kulisse Lissabons entrollenden Plot, der durch den unablässigen Redefluss anmutete wie eine epische Lesung. Deren Spannung und Dynamik entsprechen den beschaulichen Spaziergängen, auf denen Gregorius die sauberen Geschichtsstätten des Titelorts und dessen nicht ganz so saubere Geschichte erkundet. Offenbar war Portugal nie abenteuerlicher als unter der Diktatur. Damals ging der als Sohn eines regimetreuen Richters (Burghart Klaußner) geborene Amadeu zum Widerstand, angeführt von seinem besten Freund Jorge (August Diehl). Dessen schöne Gefährtin Estefania (Mélanie Laurent) verliebte sich in den noch schöneren Amadeu, mit dem sie in Altstadtgassen leidenschaftliche Küsse austauschte. Die Nacht verbirgt das heimliche Liebespaar vor den Häschern der Geheimpolizei, nicht aber Jorge.

Nachtzug nach Lissabon: Mélanie Laurent, August Diehl Von Eifersucht geblendet holt der von seinem Kampfgenossen Joao (Marco D'Almeida) den offenbar einzigen Revolver, über den die Untergrundgruppe verfügt, um Estefania zu eliminieren. Der unerschrockene Arzt, der selbst gegenüber dem Feind seinen hippokratischen Eid hält, wagt um sie zu retten die Flucht. Dabei gerät er an die Schergen des Polizeichefs Mendez (Adriano Luz): dem "Schlächter von Lissabon", der mit Amadeu noch eine Rechnung offen hat. Gregorius romantische Spurensuche auf dem Lebensweg des eigentlichen Helden beginnt bei Amadeus Schwester Adriana (Charlotte Rampling), führt zu seinem greisen Schullehrer Pater Bartolomeu (Christopher Lee), dem ergrauten Jugendfreund Jorge (Bruno Ganz) und altersschwachen Joao (Tom Courtenay). Der Ex-Widerständler, der einst unter Folter Stillschweigen bewahrte, plaudert bereitwillig über Lebensgeheimnisse wie Amadeus übrige Zeitgenossen. Sie warten an den Wirkungsorten des pünktlich am Revolutionstag verstorbenen Helden auf den erstbesten Touristen mit intimen Familiendetails.

Ersonnen hat die Klischee-Konflikte Peter Bieri, der indem er Amadeus profane Schriften lobt indirekt sein eigenes Werk verbrämt, einem Schweizer und Professor gleich dem Hauptcharakter, der die gravierende Schwäche der Story benennt: "Sehen Sie: langweilig." Man sieht es, in melodramatischen Postkartenbildern und an Bieris malerischem Pseudonym Pascal Mercier, unter dem "Nachtzug nach Lissabon" in über ein Dutzend Sprachen übersetzt wurde. Letztes hoffentlich besser als auf der Leinwand, wo portugiesische Charaktere englisch mit lateinamerikanischem Akzent sprechen. Angesichts der sentimentalen Reiseromanze wird es zu unfreiwilliger Ironie, dass Bieri/Mercier die Verfilmung als "dem Buch entsprechend philosophischen Film" tituliert, "in dem über existenzielle Fragen nachgedacht wird, die jeden beschäftigen." Eine davon stellt Gregorius zu Anfang: "Was könnte, was sollte getan werden mit all der Zeit die vor uns liegt?"

Bei 111 Minuten Filmdauer ist das eine berechtigte Frage, die Regisseur August indirekt beantwortet: etwas Besseres als seinen seichten Berlinale-Beitrag ansehen.  

Lida Bach / Wertung: * (1 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Sam Emerson / Concorde Film

 
Filmdaten 
 
Nachtzug nach Lissabon (Night Train to Lisbon) 
 
Deutschland / Schweiz / Portugal 2013
Regie: Bille August;
Darsteller: Jeremy Irons (Raimund Gregorius), Mélanie Laurent (junge Estefania), Jack Huston (Amadeu), Martina Gedeck (Mariana), Tom Courtenay (Joao Eca), August Diehl (junger Jorge O'Kelly), Bruno Ganz (Jorge O'Kelly), Lena Olin (Estefania), Burghart Klaußner (Richter Prado), Nicolau Breyner (Da Silva), Charlotte Rampling (Adriana de Prado), Christopher Lee (Father Bartolomeu), Max Hubacher (ein Student) u.a.;
Drehbuch: Greg Latter, Ulrich Herrmann nach dem Roman von Pascal Mercier; Produzenten: Günther Russ, Kerstin Ramcke, Peter Reichenbach; Kamera: Filip Zumbrunn; Musik: Annette Focks; Schnitt: Hansjörg Weißbrich;

Länge: 111,27 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; ein Film im Verleih von Concorde Filmverleih; deutscher Kinostart: 7. März 2013
ein Film im Wettbewerb (außer Konkurrenz) der 63. Berlinale 2013



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der Film im Katalog der 63. Berlinale 2013
<16.02.2013>


Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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