10.10.2017

Müdigkeitsgesellschaft
- Byung-Chul Han in Seoul/Berlin

Isabella Gresser montiert in diesem Film die Bilder so, dass ein fremdartiges Zeiterleben entsteht, in dem die Philosophie und das Leben Byung-Chul Hans erzählt werden.

Auf einer Bahnbrücke in Berlin zitiert der Philosoph den Anfang von Wim Wenders' Film "Der Himmel über Berlin", den er auswendig kann: "Als das Kind Kind war ..." und expliziert damit eine wichtige Folie für die Bildsprache der Dokumentation über ihn. Denn deren Aufnahmen wechseln anmutig und naturwüchsig, fast unbemerkt, zwischen Schwarz und Weiß, in Wenders' Film Zeichen der Unterscheidung des Lebens von Engeln und Menschen. Hier das Wandern Hans zwischen seiner Wahlheimat Berlin und seiner Herkunft Korea/Seoul in der Außenwelt. In der Innenwelt das Schweben zwischen einer utopischen Stille als einer Materie der erzählten Welt, die Han auf Friedhöfen findet, in Tempeln, in Trödelläden, wo die Dinge nicht weggeschmissen werden, sondern ihren Platz für die Ewigkeit gewährt bekommen, in den Texten Peter Handkes und als zweiter antagonistischer Materie den dystopischen Visionen und Analysen der faktischen Verhältnisse einer Gesellschaft, in der wir im Glauben frei zu sein uns immer leidenschaftlicher selbst ausbeuten und entblößen. Im Namen des Projekts der Freiheit, das wir seiner Meinung nach endlich für gescheitert erklären sollten, um unser Denken für neue Horizonte zu öffnen, bauen wir begeistert, angetrieben nur vom Leistungszwang in unserem Inneren, am grausamen Panoptikum der Müdigkeits- und Transparenzgesellschaft. Han fordert eine Philosophie, die sich gegen ihre Degradierung zur Hilfswissenschaft auflehnt, die sich nicht mehr als Kompetenz und Werkzeug zur Orientierung in den bestehenden Verhältnissen zur Verfügung stellt, sondern ihre destruktive Macht wahrnimmt uns mit wahrhaftiger Geste grundsätzlich zu desorientieren und in schöpferischem Widerstand die Erzählung einer radikal anderen Gesellschaft zu entwerfen. Das gesuchte Andere könnte auch eine Müdigkeitsgesellschaft sein. Deren Müdigkeit wäre aber eine, die uns als Kreaturen mit unseren lebendigen Bedürfnissen in einem 'freundlichen Und' miteinander verbindet, in der fundamentalen Müdigkeit aus den stillen literarischen Orten Peter Handkes.

In diesen Tönen hören wir Hans Stimme sprechen, sehen ihm zu, wie er langsam durch die Städte geht, mal ruhig und zärtlich, mal verbittert, mal leidenschaftlich, dann wieder nachdenklich über die Menschen und ihr Leben in unserer Zeit spricht. Gleichzeitig erzählen die Bilder aus Berlin und Seoul unseren Augen von der sinnlichen, schmutzigen, schönen, absurden und widersprüchlichen Lebenswelt, die den Nährboden für diese Philosophie bietet. Isabella Gresser, die auch für Kamera, Illustration und Schnitt verantwortlich zeigt, findet in Berlin und Seoul Bilder und Geschichten, die wie eindringliche Allegorien und verzerrte Mythen die Gedankenwelt Hans mit Gestalten und Ereignissen füllen. Es ist nicht Berlin, das den Anstoß für Hans Arbeit gibt, sondern die Hauptstadt seines Heimatlandes, das in der digitalen Entwicklung weltweit ebenso führend ist wie in der jährlichen Zahl von Selbstmorden. Eine der größten Fußgängerbrücken Seouls hatte sich in den letzten Jahren zu einer Pilgerstätte für ausgebrannte Bürger entwickelt, die mit der Scham ihres Scheiterns nicht leben konnten – und deshalb den Namen 'Bridge of Death' bekommen. Dann wurde sie von der Stadtregierung umgerüstet: Bewegungsmelder aktivieren heute Lautsprecher, aus denen warme Stimmen den Passanten lebensbejahende Sätze mit auf den Weg geben: 'Der schönste Tag deines Lebens liegt noch vor Dir' oder 'Sehnst Du Dich nicht auch nach Liebe?'. Beleuchtete Bilder zeigen glückliche Menschen, Familien, spielende Kinder und daneben immer wieder appetitlich angerichtetes Essen in Großaufnahmen. (Irr-)Lichter zurück in die Müdigkeitsgesellschaft, denen die Brücke ihren neuen Namen verdankt: 'Bridge of Life'. Ein Institut für Glück bietet Scheinbestattungen an, Todesseminare, die überall in der Stadt florieren. Die Teilnehmer schreiben ihre Testamente, bereiten sich innerlich auf den eigenen Tod vor und legen sich, schön zurechtgemacht, lebendig in einen Sarg. Ihnen werden die Hände gefaltet, sie werden gesegnet und dann wird der Sargdeckel geschlossen. Am Ende des Seminars, wieder am Licht, singen alle zusammen Lieder und klatschen 'Happy, that I am still alive', sie suchen einen neuen Blick auf das eigene Leben. Auf Banden an den Bürgersteigen der Stadt sind lebensgroße Wälder in Morgennebel und friedlichem Licht zu sehen, an denen die Passanten manchmal in Anzügen und immer mit Smartphones vorübergehen.

Zwischen zwei Hochhäusern steht der volle Mond, wie das 'freundliche Und' zwischen den Menschen in jener anderen Müdigkeitsgesellschaft, von der Byung-Chul Han träumt. Aus den Materien von Utopie und Dystopie formt der Film eine Zeitskulptur unserer Gegenwart und legt an ihr unserem Blick frei, wie komplex sich beides durchdringt, in Berlin und vor allem in Seoul, der Stadt, die die eigentliche, geheimnisvolle Protagonistin des Films ist. Das Werk ist nicht einfach Portrait Hans, sondern übersteigt dessen Philosophie, indem es die von Hegel und Foucault kommende Gesellschaftskritik ins Gespräch mit der poetischen Eigenständigkeit des filmischen Bilds uns seiner Bewegung bringt. Wir werden im Gang einer psychedel-realistischen, logischen Ästhetik weit von unserem alltäglichen Sehen entfernt, bis wir, wenn wir das Kino verlassen, einen Traum von der Gesellschaft in unserer Imagination entdecken, der uns auf komplizierte Weise beglückt und verunsichert, desorientiert und Hoffnung macht.  

Simon Probst / Wertung: * * * * * (5 von 5)



Filmdaten

Müdigkeitsgesellschaft - Byung-Chul Han in Seoul/Berlin


Deutschland 2015
Regie, Drehbuch, Kamera, Produktion und Schnitt: Isabella Gresser;

Länge: 61 Minuten; Kinostart: keiner; auf DVD hier erhältlich



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