21.01.1998

Lolita (1961)

"Lolita, Licht meines Lebens; Feuer meiner Lenden. Meine Sünden, meine Seele." Ein Satz unter vielen in den nicht enden wollenden Huldigungen, mit denen Humbert Humbert in Nabokovs Geständnis sein "Nymphchen" Lolita liebt. Wie wir alle wissen, ist Humbert Humbert ein alternder Mann und Lolita ein zwölfjähriges Mädchen. Diese Tatsache müsste reichen, damit wir alle noch etwas wissen: Aus diesem Roman kann, darf man keinen Film machen. Oder man muß schummeln.

Ramsdale, New England, 1947: Der in die Jahre gekommene Literaturdozent Humbert Humbert stößt bei seiner Wohnungssuche auf die einsame Witwe Charlotte Haze (herrlich pedantisch: Shelley Winters). Sein anfängliches Zögern das Zimmer zu nehmen, verschwindet just in dem Augenblick, als er in den Garten hinaustritt. Denn dort liegt Tochter Lolita beim Sonnenbad, und die Tragödie nimmt ihren Lauf: Um der 15- jährigen nahe zu sein, mietet der augenblicklich Entflammte sich nicht nur in das Zimmer ein, welches - wie wir später erfahren - schon einmal ein Literat bewohnte, der an der Tochter mehr Gefallen fand als an der interessierten Mutter, sondern heiratet seine Vermieterin sogar. Die hat jedoch Zweisamkeit im Sinn. Zuerst schickt sie das verhaßte frühreife Kind ins Ferienlager, und eröffnet dann dem sich Verzehrenden auch noch, daß er umsonst auf ihre Rückkehr wartet: die Kleine ins Internat, und Honeymoon auf Ewigkeit. In blinder Wut schmiedet der Liebende Mordpläne, doch das Schicksal kommt ihm zuvor: Charlotte findet seine Tagebücher, begreift, wer den Mann ihres Herzens im Hause hält, und wird bei ihrer kopflosen Flucht ins Freie von einem Wagen erfaßt. Endlich frei, holt Humbert Humbert das Objekt seiner Begierde aus dem "Camp Klimax" (ist das nötig?), und schon am Morgen der ersten gemeinsamen Nacht erliegt er den kindlichen Verführungsversuchen des "Nymphchens". Es folgt eine ziellose Reise von Motel zu Motel, unterbrochen von einem längeren Aufenthalt in der Kleinstadt Beardsly, wo es dem Gesetzesflüchtigen aber schnell zu heiß wird. Auf dem zweiten Teil der Reise wird sein Verfolgungswahn bestätigt: Clare Quilty, Lolitas Theaterlehrer und ehemaliger Bewohner des Hauses Haze in einer Person hat die Spur des ungleichen Paares - nicht ohne Lolitas Hilfe - aufgenommen, und muß am Ende dafür büßen, während H.H. seine Nymphe für immer verloren hat - und selbige für immer ihre Kindheit.

"Jetzt ist die Zeit, in der sie erwachsen werden". Dieser sentimentale Satz angesichts der tanzenden "Kinder" auf dem Highschool- Ball spricht das Grundproblem der Kubrick'schen Lolita aus: Nur zu gut kann man H.H. verstehen für seine Wahl zwischen folgenden Alternativen: eine zwar noch attraktive, aber ihre drohende Vertrocknung durch schrille Aktivität ausgleichende Endvierzigerin auf der einen Seite; ein frühreifes, mit den Künsten der Koketterie und Laszivität bestens vertrautes Blondinchen mit unendlich langen Beinen auf der anderen Seite. Kurz: Sie ist zu alt. Und: sie weiß zuviel. Schnell sind die Rollen vertauscht: Die unbedachte, schwärmende Verführerin treibt den armen, alten Herrn (der sich nun mal verguckt hat) in die Verzweiflung und macht ihn auch noch zum Mörder. Zwar täuscht das anfänglich überraschend reife Alter, denn im Laufe des Films kehrt Lolita mehr und mehr ihre kindlichen Züge hervor, doch die Begeisterung für Chips und Cola steht immer noch in durchaus anziehendem Gegensatz zu kühl- schlauen Überlegenheit einer kleinen Femme fatale. Gefördert wird diese Kategorisierung durch die wenig greifbare Figurendarstellung, und das gilt nicht nur für Lolita. Auch Humbert Humbert bleibt eine recht plakative Gestalt. Bis auf einige wenige Zeilen aus seinem Tagebuch und zurückhaltenden mimischen Gefühlsaufwallungen erfährt man wenig über das Innenleben dieser krankhaften Leidenschaft. Die wirklich schillernden Charaktere neben der vagen, fast sachlichen Präsentation der tragischen Beziehung sind die Nebendarsteller, die pedantische Charlotte Haze und das Chamäleon Clare Quilty: überzeugend als subtil drohender -weil wissender- Lehrer wie auch herausragend als scheinbarer Inspektor, der H.H. mit seinem seichten, zweideutigen Geplauder von Hotelgast zu Hotelgast den Schweiß auf die Stirn treibt.
Bemerkenswert bei all der Kritik ist die Eleganz, mit der der erotische Zündstoff des Romans umschifft wird, der nicht nur Anfang der 60er als (Kinder-)pornographie gegeißelt worden wäre. Nicht mal ein Kuß ist zu sehen, und trotz der zuggegeben etwas radikalen Schnitte (die aber der Jahrgang entschuldigt und so auch nicht als störend empfinden läßt) vermisst man die sichtbare körperliche Facette am wenigsten. Auch die gesellschaftlichen Konverntionen, der Kleinstadt- Mief von angebotenen Ehepartner- Tausch bis zum Damenkränzchen wird anschaulich und mit einer angemessenen Prise sarkastischen Humors porträtiert, wie er auch in Nabokovs Roman zu finden ist. Was fehlt, sind die tiefen Empfindungen der Opfer dieser sexuellen Entgleisung und die seelische Brutalität, mit der sie vom gleichzeitigen Täter erzwungen wird; eben das, was jene beunruhigende Mischung von Mitgefühl und Ekel ausmacht beim Gedanken an "Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden": das Weinen Lolitas in der Nacht (in jeder Nacht..) und das unkontrollierte Begehren einer perversen Obssession, das schnell zur reinen Qual wird, dürfen nicht fehlen, auch nicht bei einer wenig werkgeteuen Version, auch nicht 1961. Doch schon die ausführlichere Formulierung der Gedanken H.H. bei der zufälligen Berührung zwölfjähriger Schenkel oder angesichts eines fliegenden Röckchens wäre wohl film-moralisch nicht möglich, auch nicht 1998...

Barbara Weitzel / Wertung: * * * (3 von 5)


Filmdaten
Lolita (1961) (Lolita)

Regie: Stanley Kubrick; Buch: Vladimir Nabokov (nach seinem gleichnamigen Roman); Kamera: Oswald Morris; Musik: Nelson Riddle, Bob Harris (Titelmusik); Produktion: James B. Harris; Darsteller: James Mason (Humbert Humbert), Shelley Winters (Charlotte Haze), Sue Lyon (Dolores Haze/ Lolita), Peter Sellers (Clare Quilty), Lois Maxwell (Schwester Mary Lord) u.a.

GB 1961, 153 Minuten, FSK: ab 18.

Auszeichnungen:
Oscar-Nominierung 1963 (Vladimir Nabokov für das Beste adaptierte Drehbuch).

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