13.05.1998

Das zufällig geknüpfte Netz der Leidenschaften

Live Flesh - Mit Haut und Haar


Madrid 1970. Einsam bringt eine Prostituierte auf dem Weg ins Krankenhaus ihren Sohn Viktor in einem Bus zur Welt. Doch die kalte Kapitale bereitet ihm einen dunklen Empfang; die Angst der Menschen vor dem Franco-Regime hat die Straßen geleert.
20 Jahre später spielt sich in einer kleinen madrilenischen Wohnung eine Szene ab, die das Leben einiger Menschen unweigerlich miteinander verknüpft. Nach anfänglichen Avancen verweigert Elena, drogensüchtige Tochter eines italienischen Konsuls, dem naiv erscheinenden Viktor ihre Liebe. Zwei Polizisten werden während der folgenden Auseinandersetzung von den Nachbarn herbeigerufen: der aufbrausende Sancho, der von seiner attraktiven Frau fortlaufend betrogen wird, und sein jüngerer Kollege David, scheinbar gelassener und beschwichtigender Natur. Aus einem Handgemenge löst sich ein Schuss. Er trifft David ins Kreuz. Die Tatwaffe liegt in den Händen Viktors, der hinter Gitter muss.
Sechs Jahre später kommt Viktor frei. Elena ist inzwischen die geachtete Förderin eines Kindergartens und verheiratet mit dem querschnittsgelähmten David. Viktor beginnt ein Verhältnis mit Clara. Sie ist die Frau von Sancho. Bald trifft Viktor auch zufällig auf Elena und es dauert nicht lange, bis die Teilnehmer der verhängnisvollen Szene, die sich vor sechs Jahren ereignet hat, aufeinanderstoßen und in ein Geflecht von Neid, Eifersucht, Rache, Buße, Sehnsucht und Liebe verwickelt werden.
Der Film wird enden, wo er 26 Jahre zuvor begonnen hat. Doch diesmal wird in den Straßen von Madrid Freiheit und Hoffnung sein.

Dass sich der Spanier Pedro Almodóvar mit dem Kriminalroman Live Flesh der Engländerin Ruth Rendell zum ersten Mal einer Romanvorlage annimmt, muss nicht heißen, dass dieser Film weniger sein eigenes Werk ist als seine Vorgänger. Die Beteiligten in Live Flesh haben einen Antrieb zu handeln: ihre Gefühle. Die sind so übersteigert, dass die Menschen Sklaven ihrer inneren Triebe sind. Rationale Überlegungen sind marginal. Wenn zwischen Menschen einmal ein Band der Leidenschaft geknüpft ist, werden sie nicht mehr voneinander loskommen und ihr Leben an diesem Band ausrichten. Die Akteure verfangen sich anscheinend unausweichlich in einem Netz von Leidenschaften. Geknüpft wird das Netz vom Zufall. Er weist am Scheideweg energisch die Richtung und wirft die Beteiligten so zwingend und anscheinend ohne Entrinnen in seine Bahn, dass es schon fast schicksalhaft erscheint. Nichts ist planbar oder voraussehbar. So sind dies die beiden Elemente, die in Almodóvars Film Aktion hervorrufen: der Zufall und die Leidenschaft.

Die traurigste Figur des Films ist wahrscheinlich die der Elena. Sie ist die einzige, die Ehrlichkeit nach außen trägt und Verantwortung bis zur Selbstaufgabe übernimmt und auch zeigt, welchen selbstzerstörerischen Effekt Schuldgefühle haben und welchen Schmerz innere Zwänge verursachen können. Sie zerbricht an der Leidenschaft ihrer Mitmenschen. Wenn sie David ihre Ehrlichkeit beweist, wird sie im nächsten Moment von ihm belogen. So unterscheidet sie sich in einem Punkt von den starken Frauen aus Almodóvars früheren Filmen, wie Laberinto de pasiones (Labyrinth der Leidenschaften, 1982), Que he hecho yo para merecer esto? (Womit hab' ich das verdient?, 1984) oder Mujeres al borde de un ataque de nervios (Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs, 1987). Im Unterschied zu jenen, die den Ausbruch aus dem Mief, den Franco hinterlassen hatte, wagten, fehlt Elena das Motiv der Emanzipation. Gegenüber denen, die Elenas Aufopferungswillen durch die egozentrische, blinde Durchsetzung ihrer Interessen mit Füßen treten, redet sie sich Schuldgefühle ein und fühlt sich ihnen verpflichtet, wie sie es sich auch offensichtlich gegenüber David tut. Live Flesh lässt nicht nur den Sturm der Gefühle toben, sondern zeigt auch in der schrecklichen Konsequenz die Zerrissenheit und das Unglück der Figuren. Vielleicht ist dies der Moment, der ihn zu einem von Almodóvars größten Filmen macht.

Almodóvar verzichtet in Live Flesh auf oberflächliche Tabubrüche und büßt damit einen Teil offene Subversivität ein. Aber auch nicht alle Provakationen, mit denen die francistische Ordnung hinweggefegt werden sollte, haben heute noch ihre Wirkung. Homosexueller Akt, Travestie, der Gebrauch von Hilfsmitteln beim Sex und Nymphomanie wie in Laberinto de pasiones sind heute nichts völlig Erschreckendes, gar Subversives mehr. Vor allem im Vergleich mit der schreienden Gegenwartsgroteske Kika (Kika, 1993) ist Almodóvars neuester Film im Gegensatz zu einigen seiner Vorgänger leiser und tiefsinniger und verbringt mehr Zeit mit seinen Figuren.  

Philipp Wallutat / Wertung: * * * * (4 von 5)



Filmdaten

Live Flesh - Mit Haut und Haar
(Carne trémula)
Spanien / Frankreich 1997
Regie: Pedro Almodóvar; Drehbuch: Pedro Almodóvar, Ray Loriga, Jorge Guerricaechevarría (nach dem Roman Live Flesh von Ruth Rendell); Ausstattung: Antxon Gómez; Kamera: Affonso Beato; Musik: Alberto Iglesias; Schnitt: José Salcedo;
Darsteller: Liberto Raval (Viktor), Francesca Neri (Elena), Javier Bardem (David), José Sancho (Sancho), Angela Molina (Clara), Penélope Cruz (Isabel), Pilar Bardem u.a.

Länge: 99 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; deutscher Kinostart: 7. Mai 1998

Auszeichnungen:

Publikumspreis des São Paulo International Film Festivals 1998, Publikumspreis des Popcorn Film Festival in Stockholm/Schweden 1998, Silbernes Band des Sindacato Nazionale Giornalisti Cinematografici Italiani 1998 (Francesca Neri als Beste Darstellerin und Pedro Almodóvar als Bester Regisseur eines ausländischen Films), Premio de Goya 1998 (José Sancho als Bester Nebendarsteller).



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