17.02.2016
Lao Shi
![]() Mit einem Unfall, einem zunächst lediglich unglücklich erscheinenden Zufall, fängt alles an: Lao Shi, der mit Taxifahren das Nötigste verdient, um sich, seine ebenfalls berufstätige Frau und seine kleine Tochter über die Runden zu bringen, fährt einen Motorradfahrer an. Ein betrunkener Fahrgast hatte ihm ins Steuer gegriffen, woraufhin Lao Shi das Lenkrad verriss. In einem Tumult, unter Zeitdruck, der verletzte Motorradfahrer auf der Straße in einer Menschentraube liegend, sucht er fieberhaft nach der richtigen Entscheidung. Die Ambulanz, die er panisch zu erreichen versucht, kommt und kommt nicht. Schließlich lädt er das Unfallopfer in sein Taxi und schleppt es ins nächste Krankenhaus. Wenig später wird er belehrt, dies sei nicht der richtige Prozess gewesen – erst hätte er die Versicherung informieren müssen. Diese weigert sich nun, für die ärztliche Behandlung des Motorradfahrers aufzukommen. Lao Shi flucht und schreit, fügt sich aber schließlich. Seiner Frau, der er das Geschehene zunächst verschweigt, macht ihm eine Szene, als sie die Wahrheit erfährt.
Dabei ist Lao Shi – übersetzt heißt das "alter Stein", und steinalt erscheinen in diesem mit aller Rücksichtslosigkeit geführten Kampf ums Dasein seine Prinzipien in der Tat – kein wehrloses Opfer. Als sein Chef ihn auf seine Bitte, ihm Geld zu leihen, provoziert und demütigt, schlägt er wütend zu – und geht seiner Wege. Es ist der erste Eindruck einer Wandlung des Protagonisten, die aber nicht irreversibel zu sein scheint: Denn selbst als er die Gelegenheit hat, sich des Motorradfahrers zu entledigen, dessen Krankenhauskosten seine Existenz ruinieren, tut er es nicht: Er beobachtet ihn bei der Trauer um seinen verstorbenen Vater, und sein Vorsatz schwindet. Zu Ende ist es mit seiner Empathie erst, als offenbar wird, dass das Unfallopfer eine Kopfverletzung nur fingiert hat: Lao Shi rastet aus, es kommt zu einem hasserfüllten Zweikampf.
Wenn nun aber Grausamkeit das Mittel zum Überleben ist, wenn nur der gewinnt, der das Durchsetzen des eigenen Vorteils zum Prinzip all seiner Handlungen erhebt – was heißt das dann für all das, was den Menschen zum Menschen macht? Es ist das Verdienst dieses Films, das er diese Frage nicht nur stellt, sondern sie dem Zuschauer geradezu ins Gesicht schreit. Es ist eine der relevantesten Fragen unserer Zeit, da sie die Gesellschaftsform betrifft, in der wir leben wollen. Und der Film beantwortet sie, indem er zeigt, was passiert, wenn dieser Härte nichts entgegengesetzt wird. Im Tagesspiegel schrieb Harald Martenstein kürzlich in seiner Berlinale-Kolumne, er wolle im Kino verstört werden. Man möchte ihm diesen Film empfehlen. Jasmin Drescher /
Wertung: * * * *
(4 von 5)
Quelle der Fotos: Berlinale Filmdaten Lao Shi (Lao Shi) Berlinale-Alternativtitel: Old Stone
Volksrepublik China/Kanada 2016 Länge: 80 Minuten; deutscher Kinostart: unbekannt
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