20.04.2012
Opulentes Sittengemälde aus der Belle Époque

Haus der Sünde


Haus der Sünde Die Darstellung von Prostitution im Spielfilm ist für Filmemacher eine heikle Sache, da man – je nach Sichtweise – in verschiedene Fallen tappen kann, obwohl man sich dieser im Vorfeld durchaus bewusst ist. "Voyeurismus", "Ausbeute der Frauen", "Beschönigung der Prostitution", "unkritischer Dokumentarismus", "eindimensionale Darstellung von Standpunkten": das sind einige der Zuschreibungen, die bei solcherart von Filmen fallen. Der Österreicher Michael Glawogger hat mit seinem Dokumentarfilm "Whores' Glory" von 2011 einen vielstimmigen wie gleichwohl traurigen Einblick in die aktuelle Situation von Prostituierten in Thailand, Bangladesch und Mexico gezeigt. Wenngleich der Film keine Anklage sein soll, sondern nur "zeigen, aber nicht kommentieren will" (was merkwürdigerweise heute nur jeder Künstler will) ist er ein vielsagender Kommentar darauf, unter welch inhumanen und unhaltbaren Bedingungen Prostituierte auch heute in unserem aufgeklärten Medienzeitalter leben und arbeiten müssen. In billigen, schmutzigen, menschlich heruntergekommenen Kriminellenmilieus bleiben ihre Perspektiven auf ein anderes Leben beschränkt.

Haus der SündeGediegener geht es im Haus der Sünde von Bertrand Bonello zu. Sein Handlungsort ist, wie der wirklich verbrauchte Titel ohnehin suggeriert: ein Edelpuff im Paris um die Jahrhundertwende, die ausgehende Belle Époque; ein Bordell in denen die Pariser Bourgeoisie kräftig die Puppen tanzen und verkniffen die Hosen runter lässt. Das Bordell ist ein traumähnliches Refugium, und hermetisch abgeriegelt von der Welt draußen, so dass es keine Rolle spielt, ob das Leben außerhalb besser, oder vielleicht auch schlechter ist. Die geschlossene Gesellschaft, bestehend aus der Madame, der strengen, aber keineswegs gefühllosen Puffmutter, den Huren und freilich den Freiern. Letztere eine Melange aus unscheinbaren, aber geilen Geschäftsmännern, ambivalenten Künstlern, oder einfach einsamen wie gestrandeten Individuen, die in der eleganten und heimeligen Atmosphäre des Freudenhauses die Masken fallen lassen und ihren sexuellen Spielarten frönen können. Hier ist gleich zu erwähnen, dass die Sexszenen, die in einem Film wo es um Prostitution geht nolens volens vorkommen, die Bandbreite männlicher Lüste wiedergibt: von lächerlichen Rollenspielen, über unangenehmes Machtgebaren, über männliche Unterwürfigkeit, bis hin zu Deflorationsphantasien wird alles durchkonjugiert.

Haus der Sünde Zentrum ist der chice Salon, in dem gepflegt Konversation betrieben wird, bevor es in den nicht minder prunkvollen Séparées zur Sache geht. Bonello entwickelt hier warm ausgeleuchtete, satte Szenen, üppige Fresken, die dick aufgetragenen Ölgemälden ähneln. Seine Bildarrangements lassen die flirrende Zeit auferstehen, die hedonistisch ein neues Jahrhundert einläutet. In diesem Salon sind die Huren plastisch-zart, filigran, manchmal auch als burschikose Wesen herausmodelliert; ihr Spiel, das der Huren und der Schauspielerinnen in einer von Dekadenz durchtränkten Upper Class ist triumphierend. Der Filmemacher belässt es aber mitnichten nur bei der pittoresken Szenerie im Salon. Er thematisiert die Ängste, die Hoffnungen, die Solidarität, die das Leben der Frauen bestimmt, wenn sie in ihren eher schlichten Kammern sich für den Abend präparieren. Es werden keine bedeutungsvollen Dialoge oder Lamentos zu hören sein, eher werden pragmatische Fragen erörtert, wie man etwa "das klebrige Zeug" am besten von der Haut waschen kann.

Der Film reflektiert die schwankende wie heterogene Gefühlslage der Mädchen wieder, ohne sie als Opfer zu stilisieren. Sie sind Teil eines gesellschaftlichen Phänomens, und ihre jeweiligen Einstellungen zu ihrer Tätigkeit variieren. Während manche Mädchen sich mit ihren Status Quo abfinden und sich in diesem und mit diesem arrangiert haben, rebellieren andere, lassen Widerspruch aufflackern. Das gleiche gilt für die Seite der Männer: Auch hier werden verschiedenen Menschentypen präsentiert, die allesamt weder komplett zu verurteilen, noch reine Sympathieträger sind.

Bonello moralisiert nicht. Er verzichtet auf nichtssagende Dichotomien wie gut-böse, hässlich-schön, anständig-unanständig. Inwieweit sein Film authentisch ist, wird schlussendlich nicht geklärt werden können. Immerhin aber schafft er es ein diffiziles Thema durch seinen oszillierenden Blick zwischen Ästhetik und Wohlklang einerseits und trüber, ungeschminkter Realität andererseits, vorurteilsfrei zu bebildern.  

Sven Weidner / Wertung: * * * (3 von 5) 
 

Quelle der Fotos: NFP / Les Films du Lendemain / My New Picture / arte France Cinéma

 
Filmdaten 
 
Haus der Sünde (L'Apollonide (Souvenirs de la maison close)) 
 
Frankreich 2011
Regie & Drehbuch: Bertrand Bonello;
Darsteller: Hafsia Herzi (Samira), Céline Sallette (Clotilde), Jasmine Trinca (Julie), Adèle Haenel (Léa), Alice Barnole (Madeleine), Iliana Zabeth (Pauline), Noémie Lvovsky (Marie-France), Jacques Nolot, Xavier Beauvois, Louis-Do de Lencquesaing, Laurent Lacotte, Judith Lou Levy, Anaïs Thomas, Pauline Jacquard, Maïa Sandoz, Joanna Grudzinska, Esther Garrel u.a.;
Produzenten: Kristina Larsen (Les Films du Lendemain), Bertrand Bonello (My New Picture); Co-Produktion: arte France Cinéma; Kamera: Josée Deshaies; Musik: Bertrand Bonello; Schnitt: Fabrice Rouaud;

Länge: 125,19 Minuten; FSK: ab 16 Jahren; ein Film im Verleih von NFP marketing & distribution; deutscher Kinostart: 19. April 2012



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Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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