24.02.2016
Ein Film der 66. Berlinale 2016, Sektion Panorama Special

Goat


Goat Als vor gut zwölf Jahren die ersten Bilder aus dem Gefängnis Abu Ghraib publik wurden, die einen Folterskandal von ungeahnter Brutalität belegten, begann eine massive Debatte um staatliche Gewalt in einem Land mit demokratischer Regierungsform. Dabei ist das Gewaltproblem in den USA eines, das sämtliche Bereiche der Gesellschaft betrifft – nicht nur den Umgang mit Gefangenen. Der Global Peace Index, der anhand verschiedenster Kriterien über die Friedfertigkeit von Ländern Auskunft gibt, sieht die USA aktuell auf Platz 94 von 162. Zum Vergleich: Deutschland erreicht Platz 16, Dänemark Platz 2, Island Platz 1. Andrew Neel fragt in "Goat" nach der Herkunft von Brutalität und Sadismus – und entwirft ein erschreckend realistisches Bild einer Gesellschaft, in der sich Männlichkeit vor allem über Härte gegenüber sich selbst und anderen definiert. "Goat" erschüttert auch deswegen nachhaltig, weil für die introvertierte Hauptfigur, den 19-jährigen Brad, kein Gegenentwurf lebbar, ja, nicht einmal denkbar erscheint.

"Sie haben also drei fremde Männer zu sich ins Auto steigen lassen? Weil Sie so ein netter Kerl sind und die drei spätnachts nach Hause fahren wollten?" Der Polizeibeamte lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass er Brad für einen Lügner hält. So viel Freundlichkeit – oder soll man sagen, Unbedarftheit? – kann es für ihn nicht geben, so etwas hat in seinem Weltbild keinen Platz. "Ich sag Ihnen, was ich glaube: Sie wollten von denen Drogen kaufen, und die Sache ist eskaliert!" Der Zuschauer weiß, dass nichts davon wahr ist, dass das Verhör schon der nächste Akt der Gewalt ist, dem der junge Brad sich ausgesetzt sieht. Brad ist das Opfer. Er ist es, der von drei anderen Partygästen brutal zusammengeschlagen und ausgeraubt wurde, nachdem sie ihn scheinbar beiläufig um eine Mitfahrgelegenheit gebeten hatten. Drehbuchautor und Regisseur Neel spart nicht mit Details der Gewalt: Man sieht Brad Blut spucken, sich krümmen, am Boden liegen. Selbst, als er gänzlich verstummt, prügelt einer seiner Peiniger weiter mit voller Kraft auf ihn ein.

Goat Der einzige, mit dem Brad die traumatische Erfahrung teilen kann, ist sein älterer Bruder Brett. Dessen erster Reflex: Vergeltung. "Damit werden die nicht davonkommen. Die werden nicht davonkommen, das schwöre ich dir." Was der grausame Übergriff für Brad bedeutet, wird nicht weiter verbalisiert. Wir sehen ihn seine äußeren Wunden dokumentieren: Selfies des Gesichts mit den blutigen Wunden tauchen auf dem zersplitterten Display seines Handys auf. Wieder und wieder betrachtet Brad dieses Bild, auch, als die physischen Wunden bereits verheilt sind. Was geschehen ist, macht die Runde. Auf einer Party, enthemmt vom Alkohol und überzeugt von der Richtigkeit der eigenen Perspektive, erklären ihn Freunde seines Bruders zur "Pussy", zum Weichei, das sich nicht gegen die Angreifer gewehrt habe. Ob eine Verteidigung gegen drei rücksichtslose Angreifer überhaupt in irgendeiner Weise sinnvoll gewesen wäre, ist eine Frage, die erstaunlicherweise niemand stellt.

Der Reigen der Gewalt hört nicht auf. An der Uni will Brad der Studentenverbindung beitreten, bei der auch sein Bruder Mitglied ist. Voraussetzung dafür ist jedoch das Überleben der Initiationsriten, die sich auf eine ganze Woche erstrecken – die sogenannte "hell week". Ekel und Entsetzen rufen die Szenen hervor, die aufeinander folgen und kein Ende nehmen wollen. Die Neulinge, die "Goats" (Ziegen) gerufen werden, werden mit Fäkalien übergossen, angebrüllt, geprügelt, sexuell belästigt und wieder und wieder gedemütigt. Auf der Pressekonferenz bezeichnete Regisseur Neel diese institutionalisierte Gewalt als "etwas, das stillschweigend akzeptiert wird", und konstatierte, die Verantwortlichen an den Unis, an denen diese Formen der Gewalt praktiziert würden, würden beide Augen zudrücken. Er machte damit ganz klar, dass die Gewaltexzesse in "Goat" im Bereich des Tatsächlichen, nicht des Fiktionalen, anzusiedeln seien: "Es ist befremdlich, weil auch jedes Jahr Jugendliche dabei sterben."

Neel begnügt sich aber nicht mit der bloßen Darstellung – spannend ist, wie die Entwicklung Brads verfolgt wird, der aufgrund der Reaktionen seines Umfelds meint, sein sensibles und eher introspektives Naturell nun mit aller Gewalt ändern zu müssen: Als müsse er sich selbst seine eigene Stärke beweisen, greift er sogar seinen Bruder an, der mehrfach versucht, ihn vor den schlimmsten sadistischen Auswüchsen der Burschenschafts-Studenten zu schützen. Sogar, als sein Zimmergenosse stirbt, deckt Brad das System: Er schweigt, als eine Untersuchung eingeleitet wird.

"Goat" ist keine leichte Kost. Er legt den Finger auf die offene Wunde einer Nation, die ein System der Gewalt perpetuiert, das tief in sozialen Institutionen verankert ist – und dort kultiviert wird. Diese Gewalt ist so stark mit der Vorstellung männlicher Identität verknüpft, dass es scheinbar nur die Möglichkeit gibt, sich diesem Bild zu unterwerfen – oder ohne Identität zu sein. Die merkwürdige Absenz der Erwachsenen in diesem Film verweist auf die Einflusskraft der "Peer Group", die, mehr als alles andere, diese jungen Charaktere formt. Neel sagte in der Pressekonferenz, eines seiner Lieblingsbücher sei "Der Herr der Fliegen". So relevant dieses Buch immer noch ist, so unverzichtbar ist dieser Film Neels.  

Jasmin Drescher / Wertung: * * * * * (5 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Berlinale

 
Filmdaten 
 
Goat (Goat) 
 
USA 2016
Regie: Andrew Neel;
Darsteller: Ben Schnetzer (Brad Land), Nick Jonas (Brett Land), James Franco (Mitch), Gus Halper (Chance), Danny Flaherty (Will), Virginia Gardner (Leah), Jake Picking (Dixon), Brock Yurich (Wes), Will Pullen (The Smile) u.a.;
Drehbuch: David Gordon Green, Andrew Neel, Mike Roberts; Produzenten: Christine Vachon, James Franco, Vince Jolivette, David Hinojosa; Kamera: Ethan Palmer; Schnitt: Brad Turner;

Länge: 102 Minuten; deutscher Kinostart: unbekannt



Artikel empfehlen bei:  Mr. Wong Delicious Facebook  Webnews Linkarena  Hilfe

© filmrezension.de

home
  |  regisseure/schauspieler   |  e-mail
 über uns  |  impressum  


 
 
 
 
 
Der Film im Katalog der Berlinale
<24.02.2016>


Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

Drucken

Artikel empfehlen
Mr. Wong Delicious Facebook Webnews Linkarena 
Hilfe