08.08.2012
Das Fremde in Dir

Geh und lebe


Die Filmliste des Regisseurs Radu Mihaileanu ("Zug des Lebens", Komödie von 1998 über den Holocaust, "Das Konzert") ist nicht lang: Gerade mal sechs Filme hat der 54-Jährige realisiert. Aber jeder dieser Filme hat es in sich. Der atmosphärisch starke Film "Geh und lebe" ist die Geschichte des verlorenen Kindes, das den Schmerz der Trennung von der Mutter nie überwindet. Es ist die Geschichte eines unerträglichen Lebens in der Lüge, wenn man vorgibt, ein anderer zu sein. Und die Geschichte von der Kluft zwischen Hautfarben und Religionen. Die schönen, dokumentarisch angehauchten Bilder haben einen magischen Sog. Sie halten dem Zuschauer einen Spiegel vor und befragen ihn nach seiner Einstellung zur Akzeptanz anderer.

In einem äthiopischen Flüchtlingslager erfährt eine Mutter, dass ihr Sohn tot ist – keine Worte, nur Gesten und der tote Blick der Mutter verraten das Leid. Eine andere, ebenfalls vom Leid gezeichnete, abgemagerte Mutter stellt sich vor ihren fassungslosen Sohn und vertreibt ihn mit den Worten: "Geh, lebe und werde... Und komm nicht früher zurück, als bis du es erreicht hast!" Er ist neun Jahre alt. Alles, was er auf den Weg mitbekommt, ist eine einfache Kette um den Hals.

Der Junge, dessen Mutter Christin ist, stellt sich in eine Schlange zwischen andere Flüchtlinge – äthiopische Juden, die in den Sudan fliehen und von dort in einer Geheimaktion nach Israel geflogen werden. Es ist die 1985 durchgeführte "Operation Moses", die Heimführung 8000 äthiopischer Gläubiger ins Gelobte Land. Im Aufnahmelager in Jerusalem bekommt der Junge eine neue Identität: er heißt jetzt Schlomo.

So beginnt der schwere Weg des wegen seiner Hautfarbe diskriminierten, wegen seiner Sehnsucht introvertierten und wegen seines falsch vorgegebenen Glaubens völlig konfusen Schlomo. Der wilde und verschlossene Junge ist sehr gescheit – er lernt schnell Hebräisch, in seiner Adoptivfamilie Französisch, aber sein Geheimnis erdrückt seine Seele. Trotz der liebevollen Aufnahme in die neue Familie, trotz verständnisvoller Lehrer und trotz der bedingungslosen Liebe, die ihm seine spätere Frau Sarah entgegenbringt, wird Schlomo die immerwährende Sehnsucht nach der wahren Familie, der wahren Identität, nach einem Leben in Wahrhaftigkeit nicht los. Er bewältigt sie mit Nahrungsverweigerung und Rebellion, mit Wut und Trauer, mit Rückzug ins Innere und später mit Arbeitselan.

Hervorragend ist dies durch die drei verschiedenen Schauspieler wiedergegeben, die Schlomo in drei verschiedenen Kapiteln seines jugendlichen Lebens darstellen: Den Titelworten des Films entsprechend ist "Va" – "Gehe" – das Kapitel Flucht; "Vis" – "Lebe" – das Exilleben und "Deviens" – "Werde" – die Reifung zum Mann. Der Film streift vergessene geschichtliche Ereignisse, Rassismus (die schwarzen Äthiopier sind – obwohl gleichen Glaubens – nicht gerne von den weißen Israelis geduldet), den Streit der Religionen (welche Hautfarbe hatte Adam?) und Politik (die Antwort auf den israelisch-palästinensischen Konflikt, der in der vorgeschlagenen Teilung des Landes liegt). Dennoch wirkt er nicht überladen und kommt mit pointierten Dialogen, ausdrucksstarken Gesten und etwas Romantik aus. Den Blick zum nächtlichen Mond verbindet Schlomo immer wieder mit seiner Mutter, mit der Wahrheit, mit seinen christlichen Wurzeln, mit seinem Land.  

Hilde Ottschofski / Wertung: * * * * (4 von 5) 
 

 

 
Filmdaten 
 
Geh und lebe (Va, vis et deviens) 
 
Frankreich / Israel 2004
Regie: Radu Mihaileanu;
Darsteller: Yaël Abecassis (Yael), Roschdy Zem (Yoram), Moshe Agazai, Moshe Abebe, Sirak M. Sabahat (alle drei: Schlomo in verschiedenen Altersstufen), Yitzhak Edgar (Amara), Roni Hadar (Sara), Rami Danon (Papy), Mimi Abonesh Kebede (Hana), Meskie Shibru Sivan (Schlomos Mutter), Raymonde Abecassis (Suzy) u.a.;
Drehbuch: Alain-Michel Blanc, Radu Mihaileanu; Kamera: Rémy Chevrin; Musik: Armand Amar; Schnitt: Ludo Troch;

Länge: 149 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; ein Film im Verleih von Delphi Film; deutscher Kinostart: 6. April 2006

Auszeichnungen:

Panorama-Publikumspreis der Berlinale 2005, und viele andere, vor allem Publikumspreise bei Festivals weltweit



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Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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