14.02.2016
Ein Film der 66. Berlinale 2016, Sektion Wettbewerb, Goldener Bär 2016

Seefeuer


Nachdem Regisseur Gianfranco Rosi 2013 mit "Sacro GRA" in Venedig den Goldenen Löwen gewann, könnte ihm auf der Berlinale ein ähnlicher Erfolg gelingen. Zurückhaltende und dennoch einprägsame Bilder, durchbrochen durch die Perspektive eines zwölfjährigen Jungen, zeigen einen kleinen Flecken Land im Mittelmeer. Lampedusa wird in Rosis eindringlicher Doku zum Markstein des Umgangs Europas mit den verzweifelten Menschen, die hier fast täglich landen.

SeefeuerAls der Regisseur im Herbst 2014 zum ersten Mal die Insel betrat, wollte er ursprünglich einen Kurzfilm drehen. Ein zehnminütiges Stück für ein internationales Filmfestival. Gelungen ist ihm nur der zweite Teil des Vorhabens. "Fuocoammare", so der Originaltitel, läuft dieses Jahr als einer von zwei Dokumentarfilmen im Wettbewerb. Doch aus 10 Minuten sind fast 110 geworden. Ein Zufall brachte den Filmemacher mit dem einzigen Arzt der Insel zusammen. Ohne sein Gegenüber zu erkennen, erzählte Dr. Bartolo von seiner durch die Unglücke auf See veränderte Routine und zeigte ihm Bilder. Solch einprägsame Aufnahmen vom Grauen und dem unaufgeregten Gewohnheiten zeigt Rosi nun dem Publikum. Sie machen die Realität plötzlich nah und greifbar. Dieses Gefühl der unmittelbaren Präsenz trägt die Handlung auch über einige Längen hinweg und zieht einen immer wieder zurück in die Geschehnisse. Sie erschließen sich großenteils aus der Sicht des kleinen Samuele. Er plagt sich vormittags in der Schule, schießt nachmittags mit der Schleuder, isst mit seinem Onkel und der Großmutter zu Abend und nachts erkundet er manchmal die Insel. Nur 20 Quadratkilometer misst sie.

Seefeuer Viel zu wenig für die Tausenden Menschen, die regelmäßig mit Kuttern überzusetzen versuchen. Für die Männern, Frauen und Kinder, die von der afrikanischen Küste ablegen, ist Lampedusa der letzte Hafen. Viele kommen niemals an, viele kommen tot an. Der Bauch der maroden Kutter, auf denen die Flüchtenden Tage und Wochen treiben, ist oft voller Leichen. Doch die Wahrnehmung einer Tragödie verändert sich unweigerlich, wenn sie zum Dauerzustand wird. "Normal" ist nicht das, was richtig oder akzeptabel ist. "Normal" ist das, was üblich ist. Allein 2011 landeten 48.000 Flüchtende in der Heimat Samueles. Der Junge ist einer von rund 5000 Einheimischen, die Tag für Tag die menschlichen Dramen miterleben. Sie erledigen weiter die trivialen Alltagsdinge. Und im Radio läuft: "Fuocoammare". Der Name des alten Schlagers weckt Erinnerungen an das Unglück am 3. Oktober 2013, als vor der Küste ein mit über 500 Flüchtlingen besetztes Schiff vom Kapitän in Brand gesetzt wurde. Die Panik an Deck brachte das Schiff zum Kentern. Mindestens 390 der aus Somalia und Eritrea stammenden Menschen an Bord ertranken. Das Leid der Überlebenden endet nicht mit der qualvollen Zeit auf See. Es setzt sich fort im Flüchtlingslager, das mit seiner Enge und Abgeschlossenheit mehr ein Gefängnis ist.

Es gibt keinen Kommentar, der den Blickwinkel vorgibt. Rosi lässt seine Bilder sprechen. Der Tod ist gewöhnlich geworden an diesem Ort, dessen natürliche Schönheit einen befremdlichen Kontrast zum menschlichen Elend abgibt. Bei stürmischem Wetter bleiben die Fischerboote im Hafen. Die anderen Boote fahren weiter aufs Meer. Und im Radio läuft "Fuocoammare".  

Lida Bach / Wertung: * * * (3 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Berlinale

 
Filmdaten 
 
Seefeuer (Fuocoammare) 
 
Italien/Frankreich 2015
Regie: Gianfranco Rosi;
Mitwirkende: Samuele Pucillo, Mattias Cucina, Samuele Caruana, Pietro Bartolo, Giuseppe Fragapane, Maria Signorello, Francesco Paterna, Francesco Mannino, Maria Costa u.a.;
Drehbuch: Gianfranco Rosi, nach einer Idee von Carla Cattani; Produzenten: Donatella Palermo, Gianfranco Rosi, Roberto Cicutto, Paolo Del Brocco, Serge Lalou, Camille Laemlé, Martine Saada, Olivier Père; Kamera: Gianfranco Rosi; Schnitt: Jacopo Quadri;

Länge: 113,42 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; deutscher Kinostart: 28. Juli 2016

Auszeichnung:
Goldener Bär 2016



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Der Film im Katalog der Berlinale
<14.02.2016>


Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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