15. September 2005
Die Stille nach dem Stillstand

Durchfahrtsland


FilmszeneEin Blick in tiefste deutsche Provinz, obwohl der Kölner Dom noch in Sichtweite ist. Vier Bewohner des Vorgebirges begleitete Regisseurin Alexandra Sell ein Jahr lang durch ihren Alltag. Wer eine langweilige Reportage erwartet, wird positiv überrascht: Die Absolventin der Kunsthochschule für Medien Köln schildert die eigentlich belanglosen Vorkommnisse in märchenhaft verdichtetem Stil. Ein epische Breite suggerierender Duktus entsteht. Dokumentation? Fiktion? Beides. Der Film ist formal faszinierend wie fragwürdig.

Frage aus dem Publikum: Haben die Mitwirkenden denn den Film schon gesehen? Nein, noch nicht, antwortete Alexandra Sell. Gelächter im Kino. Schadenfreude nach der Vorstellung, die Eindruck gemacht hatte. So geschehen beim TV- und Filmfestival Cologne Conference im Sommer 2005, einem Festival in Köln, keine 20 Kilometer entfernt vom Schauplatz, dem Vorgebirge, dem linksrheinischen Landstrich zwischen Köln und Bonn.
FilmszenePhysiker Werner Heisenberg stellte mal das Gesetz auf: Beobachtete Objekte werden durch die Beobachtung beeinflusst. Und sind somit nicht mehr beobachtbar. Die vier Menschen, die Sell für ihren Dokumentarfilm ausgewählt hat, ließen sich zwar durchaus nicht in ihrem Tagesablauf beeinflussen. Für die Zukunft, wenn sie ab dem Kinostart, dem 15. September 2005, einem gewissen Hohn ausgesetzt wären, gäbe es nicht eine diffuse Grenze zwischen Vorgebirge und dem Rest der Welt, könnten sie allerdings ihre Teilnahme an dem Film bereuen. Dabei zeigt Sell offenkundig zwar nichts anderes als deren Lebensinhalte. Zwischen den Zeilen steckt aber gleichzeitig Humor Harald Schmidtscher Provenienz, sowie Stefan Raab und "Extra-3"-Alphonse grüßen, wenn Sell das monotone Leben in der Provinz porträtiert. Dass Schriftsteller Heinrich Böll in Bornheim lebte und starb, interessiert die Regisseurin nicht. Die Erwähnung würde den Rahmen sprengen. An den Anfang stellt sie ein Zitat, das sogleich die Form dieser außergewöhnlichen Doku vorgibt und einhalten wird: Dichterin Johanna Schopenhauer sprach, in anderen Worten, vom "Durchfahrtsland". Eine Qual sei es, um von einer Stadt in die andere zu gelangen, durch diese Einöde reisen zu müssen. Dass das relativ lange Zitat überraschend mit negativem Urteil endet, ist die erste, leise gesetzte und doch krachende Pointe dieses Films.

Dabei gibt es im so genannten Vorgebirge Menschen, die dort gerne leben. Und bleiben möchten. Köln und Bonn sind kaum entfernt, aber in ihrer Leben spielen die Städte keine wesentliche Rolle. Urban anmutend ist die Köln-Godorfer Öl-Raffinerie, die den Rhein vom Vorgebirge trennt, und zahlreiche Hochspannungsmasten, die der Landschaft einen derberen Charakter verleihen, als es der Dorfkultur gut tun kann. Die Bewohner der Dörfer selbst, zeigt Sell, bilden einen in sich geschlossenen Mikrokosmos. Diese Dörfer sollen untereinander verkracht sein, berichtet die Regisseurin. Ein Pfarrer müht sich redlich um Versöhnung. Der Geistliche Hans Wilhelm Dümmer ist eine der vier von Alexandra Sell näher vorgestellten Personen. Tricks von ihm werden aufgezählt, die er im Lauf des Beobachtungsjahres verwendet, um die Bewohner von Bornheim-Hemmerich und -Rösberg einander näherzubringen, zu einer Gemeinde zusammenzuführen. Vergeblich.
Gedanken der Feindschaft trägt Giuseppe Scolaro keineswegs in sich. Er ist gerne Bewohner des Vorgebirges. Er schämt sich gar, von Geburt her kein Deutscher zu sein. Sogar zum Bund möchte er. Trotz schweren Übergewichts wird es ihm gelingen.
Mit den Bewohnern des Vorgebirges käme Sophia Rey eigentlich bestens klar. Würden diese nur häufiger ihre Krimis kaufen. Im Vorgebirge spielende Texte über Mord und Totschlag. Alexandra Sell wird die ältere Autorin mal aus einem ihrer Werke vorlesen lassen. Das Vorlesen wird für sich sprechen, warum die Bücher doch nicht so erfolgreich sind.
FilmszeneDer Vierte im Bunde, noch jünger als Giuseppe: Mark Basinsky. Er möchte doch weg. Nach Mailand. Design studieren. Am Ende des Films wird es bis nach Köln geschafft haben. In seinem Dorf dann immer noch wohnend. Dabei passt er besonders wenig in dessen Gemeinschaft, so sehr er sich auch anstrengt, keinen Junggesellenabend zu verpassen. Als Außenseiter, der er ist, wird er aber nie bezeichnet werden. Das Porträt sagt es stillschweigend und doch sehr deutlich.

Alexandra Sell kommentiert nicht mit expliziten Urteilen. Sie kommentiert rein nacherzählend aus dem Off, sodass die Geschehnisse eine gesteigerte Dramaturgie erhalten. Obwohl es eigentlich nichts besonderes zu erzählen gibt. Großstädter werden angesichts der dargestellten Spießbürgerlichkeit und dem unbedingten Willen der Bewohner, dass es, so wie es ist, unbedingt zu bleiben hat, erschaudern. "Durchfahrtsland" ist, als literarisch gefasster Bericht betrachtet, prinzipiell das Gegenteil eines Entwicklungsromans, das Durchfahrtsland ist kein Entwicklungsland, spitz formuliert. Für seine Protagonisten gilt: nur Konservierung, kein Fortkommen. Außer für Durchreisende à la Johanna Schopenhauer: durch und weg. "Für die Menschen allerdings, die dort wohnen, ist das Vorgebirge die Mitte der Welt", erläutert Sell. Einst führte sie die Arbeit an einem Doku-Kurzfilm in die englische Provinz. Das Thema Heimat ließ sie fortan nicht mehr los, denn sie merkte, dass sie wenig über ihr eigenes Land wisse. Die aus Hamburg stammende Wahl-Kölnerin entdeckte das Vorgebirge für sich, denn es war ihr wichtig, sagt Sell, "direkt vor meiner eigenen Haustür auf die Suche zu gehen - nach der These: Das Fremde beginnt gleich nebenan."

Das Fremde. Doch noch ein Kommentar von ihr zu den von ihr gezeigten Umständen. Nicht im Film, freilich. Sie führt die im Film Porträtierten vor. Zugeben dürfte sie das nie, freilich. Bewusst immerhin dürfte es ihr sein, angesichts weiterer eingestreuter Pointen, neben jener zum Auftakt des Films. Der Landstrich heißt Vorgebirge, dabei fehlte doch "das Gebirge hintendran", wirft sie einmal in einem ihrer kühlen, mystifizierenden Off-Monologe ein.

Man darf der Regisseurin gern den Vorwurf machen, die vier und ihre Mitbewohner im Unklaren gelassen zu haben, was der Film für sie bedeutet, Pfarrer Dümmer vielleicht ausgenommen: Ihre Rückständigkeit kann fortan verspottet werden. Eine gewisse Denunziation durch Sell und ihr Team könnte man es nennen. Andererseits: Diesen Umstand werden die Dörfler nicht unbedingt nachvollziehen können. Überall soll es besser sein, wo wir nicht sind? Alexandra Sell zeigt in einem so noch nicht gesehenen filmischen Experiment, wie auch Deutschland in seiner Gesamtheit dem Stillstand verfallen ist, Veränderungen unerwünscht; genau rechtzeitig zur adäquat verlaufenen Bundestagswahl 2005. Ödnis ist, der Mikrokosmos wird zum Makrokosmos, wir müssen still sein bei Beurteilungen, nicht nur in der Provinz wie Bornheim und Umgebung angesiedelt.  

Michael Dlugosch / Wertung: * * * * (4 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Verleih Real Fiction

 
Filmdaten 
 
Durchfahrtsland (Deutschland 2005)
Titel für den englischsprachigen Markt: Remote Area   
 
Regie, Drehbuch und Off-Kommentar: Alexandra Sell;
Mitwirkende: Hans Wilhelm Dümmer, Sophia Rey, Mark Basinsky, Giuseppe Scolaro u.a.; Produktion: 2Pilots, Jörg Siepmann, Harry Flöter in Zusammenarbeit mit ZDF - Das kleine Fernsehspiel, Filmstiftung NRW, Nordmedia, Kuratorium junger dt. Film; Kamera: Justina Feicht, Henning Drechsler; Musik: Kreidler; Länge: 94 Minuten; FSK: ohne Altersbeschränkung; ein Film im Verleih von Real Fiction



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<15. 9. 2005>


Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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