25.02.2009

Diva

Langsam fährt die Kamera durch die Reihen der Zuschauer im Pariser Théâtre des Bouffes du Nord, wir sind mitten unter ihnen und lauschen ebenso gebannt dem grandiosen Gesang der Diva: Der amerikanische Star Cynthia Hawkins zelebriert die Arie "Ebben? Ne andrò lontana..." aus der Oper "La Wally". Aber die Harmonie der fast überirdischen Musik wird gestört. Etwas ist nicht in Ordnung. Ein junger Mann - es ist der Postbote Jules - dreht heimlich den Aufnahmeknopf seines Tonbandgerätes, und hinter ihm sitzen zwei wenig Vertrauen erweckende Gestalten mit spiegelnden Sonnenbrillen...

So beginnt einer der faszinierendsten Filme der 80er Jahre. Während die Arie immer wieder erklingt, entwickelt sich neben der zarten platonischen Liebesgeschichte zwischen Jules und Cynthia ein mitreißender Thriller, der die Zuschauer in atemlose Spannung versetzt. Der mopedfahrende Jules bekommt große Probleme mit seinem Tonband. Taiwanesische Agenten (die mit den Sonnenbrillen!) sind hinter der Aufnahme her und wittern das große Geschäft, denn Cynthia Hawkins verweigert jede Aufzeichnung ihrer Musik, und die Medienindustrie Taiwans hat das internationale Urheberrecht nicht anerkannt. Zudem hat Nadja, ein Callgirl, eine Kassette besprochen, auf der sie den Kriminalkommissar Saporta als heimlichen Chef eines Drogen- und Mädchenhändlerrings entlarvt. Kurz bevor Saportas Killer sie ermorden, gelingt es ihr noch, die belastende Kassette unbemerkt in Jules' Mopedtasche zu stecken, so dass nun auch sein Leben in größter Gefahr ist. Die Rettung kommt durch Jules neuen Freund Gorodish, einen philosophierenden Loftbewohner, der Saporta die belastende Kassette verkauft. Dieser will auf Nummer Sicher gehen und sprengt Gorodishs Auto in die Luft, darin sitzen aber die zwei taiwanesischen Agenten. Am Schluss kommt es zum Showdown in Jules' "Wohnung", einer Etage in einer alten Fabrik: Saporta und seine beiden Komplizen stürzen in den Fahrstuhlschacht. Letzte Szene: Jules und Cynthia stehen aneinandergelehnt auf der Bühne im Opernhaus vor dem leeren Zuschauerraum und lauschen der Aufnahme von "La Wally", Cynthia "hört" zum ersten Mal ihre Stimme. Die Schönheit der Kunst hat die bösen Mächte der Unterwelt besiegt.

Nach zunächst nur geringem Erfolg wurde "Diva" bald zum Kultfilm. Er erhielt vier Césars als Bestes Erstlingswerk, für die Beste Kamera, die Beste Musik und den Besten Ton. Zu Recht. Denn dieser Streifen ist ein filmisches Meisterwerk, das nicht allein durch die spannungsreiche Handlungskomposition, sondern vor allem durch die betörende Bilderflut, durch die immer wieder überraschenden optischen Einfälle fasziniert. Filmkritikerin Pauline Kael schrieb über den Regisseur: "Beineix denkt mit den Augen." So schuf er zahlreiche unvergessliche Szenen: Jules in seiner Etage, an den Wänden grelle Bilder von alten Automobilen; Gorodish – die Zigarre im Mund – in der dampfenden Badewanne in seinem bläulich beleuchteten Loft; der morgendliche Spaziergang von Jules und Cynthia im Jardin du Luxembourg (zu den Klängen von Vladimir Cosmas Jazzpiano); die Verfolgungsjagd in den Metroschächten; Gorodishs Freundin, die kleine Vietnamesin Alba, rollschuhfahrend vor ihren Fotos; der weiße Citroën in der Morgensonne, sich von einem Leuchtturm entfernend, wo sich Jules und Alba versteckt halten; und natürlich die Eingangssequenz: überirdisch schöne Klänge im etwas maroden Opernhaus, eine Träne glänzt auf Jules' Gesicht, die Diva spiegelt sich – Detailaufnahme! – in der Sonnenbrille eines der Agenten. Wie sich überhaupt der Spiegel als wiederkehrendes Motiv erweist: Die Killer spiegeln sich in einer Pfütze, Cynthia in der Zimmertür ihres Hotels, die Leuchtreklamen in den Fensterscheiben, die Straße im Autoscheinwerfer. Und auch der Film reflektiert in typisch postmoderner Manier sich selbst als Medium, etwa durch die Zitate aus anderen Filmen (eine Blondine geht über einen Luftschacht, und prompt hebt sich für einen Moment ihr Rock: wie Marilyn Monroe in "Das verflixte siebte Jahr"). So ist der Film ernst und spielerisch zugleich, ernst in seiner Aussage und seiner Reflexion über Authentizität und Vergänglichkeit von Leben und Kunst (Kann man ein künstlerisches Erlebnis "konservieren"?), spielerisch in der virtuosen Verwendung von "Déjà-vu"-Elementen, Pop-Art-Motiven, Erinnerungen an andere Werke der Filmkunst. Man hat Beineix dem "Cinéma du look" zugeordnet, zusammen mit Luc Besson und Leos Carax. Wie diese legt er weniger Wert auf moralische Botschaften und tragische Beziehungen zwischen festgelegten Charakteren, sondern entwickelt in "Diva" unbefangen und ohne Berücksichtigung der Grenzen von Kunst und Kommerz ein hochartistisches Werk, das die gegenwärtige Welt und ihre Medienkultur zugleich widerspiegelt und einer neuen Sehweise unterwirft. Beneix sagt von sich selbst: "Ich bin kein Maler, Schreiber, Tänzer oder Musiker, aber ich bin von allem ein wenig. Das Kino ist der Ort, wo sich meine gesammelten Unzulänglichkeiten zu einem Ganzen verbinden lassen."

Die Arthaus-DVD-Edition "Diva" enthält ein textreiches Booklet, aber kaum Bonusmaterial: neben dem Trailer nur ein Interview mit Beineix, das recht aufschlussreich ist in Bezug auf die Dreharbeiten und die erstaunliche "Karriere" des Films. Die deutschen Untertitel sind hingegen suboptimal. Hier ist ständig von Jules, dem "Türwächter", die Rede. Der Schussel von Übersetzer hat "portier" mit "postier" (Postbote) verwechselt.  

Manfred Lauffs / Wertung: * * * * * (5 von 5)



Filmdaten

Diva
(Diva)
Frankreich 1981
Regie: Jean-Jacques Beineix; Drehbuch: Jean-Jacques Beineix und Jan van Hamme nach einem Roman von Delacorta; Produktion: Irène Silberman für Les Films Galaxie und Greenwich Film Production; Kamera: Philippe Rousselot; Musik: Vladimir Cosma;
Darsteller: Wilhelmenia Wiggins-Fernandez (Cynthia Hawkins), Frédéric Andréi (Jules), Richard Bohringer (Borodish), Thuy An Luu (Alba), Jacques Fabbri (Kommissar Saporta), Dominique Pinon u.a.

Länge: 113 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; deutscher Kinostart: 25. März 1983



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Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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