31.08.2011
Nur Liebe kann die zwischenmenschliche Kälte überwinden

Die Zwillinge


Als Lotte und Anna, zwei Zwillingsschwestern, mit Gewalt voneinander getrennt werden, sind sie gerade mal sechs Jahre alt. Es ist das Jahr 1922. Gerade wurden die Eltern begraben und die Mädchen stehen hilflos und sich aneinander festhaltend da. Was nutzt das verzweifelte Weinen und Klammern an der Schwester, die Erwachsenen sind stärker und reißen sie auseinander. Die verwandte holländische Tante nimmt die TBC-kranke Lotte zu sich, wo sie gutbürgerlich behütet und feingeistig aufwächst. Anna trifft das Schicksal härter, sie kommt in eine arme deutsche katholische Bauernfamilie, wo sie Schweine füttern, Kuhställe ausmisten, sich dem harten Willen der ewig schwangeren bildungsfeindlichen Bäuerin unterwerfen sowie die Schläge des Onkels ertragen muss. Ihr immer wiederholter Satz "Ich will in die Schule!" wird geflissentlich überhört, Anna wird keine Zuneigung und keine gute Gesinnung zuteil. Erst als sie zur abgearbeiteten und immer noch armseligen jungen Frau herangewachsen ist, erfährt sie ihre erste Zuneigungsbekundung von einem jungen unfreiwillig in den Hitler-Krieg eingezogenen Soldaten, und sie geht – ohne das Nazitum zu hinterfragen – eine Ehe mit dem SS-Mann ein.

Lotte lernt indes als junge Frau am Klavier spielend ihren zukünftigen jüdischen Mann kennen. Und das soll das Ausschlaggebende an einem unüberwindbar scheinenden Konflikt zwischen den Zwillingsschwestern werden: Denn auch als die schicksalhafte Trennung, aufrecht erhalten durch einen verhinderten Briefkontakt, mit einem Wiedersehen nach vierzehn Jahren überwunden und das Magische und Wortlose zwischen den Zwillingen für kurze Zeit wieder möglich wird, trennt sie jäh der gedankenlose Antisemitismus der in Deutschland sozialisierten Anna. Tief verletzt über Annas Bemerkung "Ach, ich dachte nur – der ist doch Jude" beim Anblick des Bildes von Lottes Verlobtem verlässt Lotte ihre Schwester, ohne sich mehr umzudrehen. Diese symbolische Körpersprache prägt ihre Beziehung bis ins tiefe Alter – Anna rennt verzweifelt ihrer Schwester hinterher, will den Fehler verstehen und wiedergutmachen. Aber als Lottes Verlobter David in Auschwitz ermordet wird, scheint die Kluft zwischen Lotte und der inzwischen SS-Offizierswitwe Anna ab nun endgültig unüberwindbar. Lotte dreht ihrer Schwester den Rücken – wieder und wieder und wieder. Sie will die deutsche Sprache nicht mehr hören, sie will nichts mit Deutschland und nichts mit Nazis zu tun haben.

Nun sind sie alt geworden, die Zwillinge. Haben ein Leben lang getrennt voneinander verbracht – wegen gesellschaftlicher und nationaler Unterschiede und Vorurteile, wegen des Nichtsprechens darüber und der Verletztheit, wegen realer Schuld und überzogener Schuldzuweisung (Anna: "Ich habe David nicht ermordet"). Und wieder ist es Anna, die ihrem "Lottchen" hinterherrennt. Sie treffen sich in einem Spa, und da wird ein irrender Spaziergang durch den Wald zu einem letzten Kampf der Gefühle und Verletzungen, der aber schließlich knapp vor dem Tode Annas noch zur Versöhnung führt. Das ist die human-universelle und fast christliche Botschaft des Films: Nur wenn wir unsere – manchmal gerechtfertigten und manchmal unrechtmäßigen inneren Verletzungen überwinden und anderen verzeihen – sind wir ganze Menschen.

In drei Generationen wird der Film erzählt – die sechsjährigen, die zwanzig- und siebzigjährigen Zwillinge werden in ihren unterschiedlichen Milieus gezeigt. Ausgezeichnet ausgewählt sind die Schauspielerinnen, die auch äußerlich gut zu ihren jüngeren oder älteren Pendants passen. Eine zentrale Rolle spielt die Anna-Darstellerin Nadja Uhl, denn Annas Leben wird so dargestellt, wie es nun mal war – hart, unprätentiös, verzichtend und ohne moralisches Werten des Erzählenden. Aber die Vorsicht, mit der Drehbuch und Regisseur an den Stoff herangehen, wo vieles ungesagt und angedeutet bleibt, lässt dann doch letztendlich eine Tiefe vermissen. Dieses Fehlen wird nur ausgeglichen durch die hervorragende Darstellung Nadja Uhls, die erahnen lässt, wie Anna tief innen leidet. Eine unglücklicherweise aus dem Film geschnittene, aber auf der DVD zusätzlich angebotene Szene, wo sie als Krankenschwester während des Krieges einem zu Tode verwundeten, im menschenleeren Krankenhaus zurückgelassenen Soldaten in den letzten Lebensstunden Beistand leistet, und ihre Verzweiflung danach, zeigt die zutiefst menschliche und mutige Anna, die im sonstigen Filmverlauf angedeutet bleibt. Ein "emotionales Close-up" – z.B. durch sprachliche Mitteilung in Mono- oder Dialogen über die innere Zerrissenheit, die Trauer und gelegentlich auch Verbitterung und Verzweiflung, die widersprüchlichen Gesellschaftsschichten, Kulturen und Sprachen und den Verlust von Geborgenheit und Zuneigung – wagt der Film nicht. Die emotionale Ebene findet oft "nur" in der wortlosen, aber dafür meisterhaften Darstellung der Schauspielerinnen statt.

Das Zwischenspiel der zeitlichen Ebenen – Flashbacks und Flashforwards – erzeugt beim Zuschauer Neugier, wie die Geschichte weitergeht, so dass man gespannt und berührt bis zum Ende dabeibleibt. Die Bilder sind leicht sepia-gefiltert melancholisch und die Ausstattung peinlich genau zeitgetreu (furchterregend der Offiziersdrill von Annas Soldatenfreund im SS-Quartier, wo alle im Block den Hitlergruß hinausschreien). Die mentale Einstellung einer moralisch restriktiven Zeit wird durch wenige gelungene "Pinselstriche" des Films suggeriert – etwa durch die scheinbar hilflosen, weil den Männern untergeordneten, Damen der Häuser, in denen Anna als Dienstmädchen arbeitet oder den Zwiespalt in der holländischen Familie Lottes, als die jüdischen Verwandten ihres Verlobten im eigenen Haus vor den Nazis versteckt werden. Magisch aber nicht störend übertrieben mutet die telepathische Kommunikation der geografisch getrennten Zwillingsschwestern an. Dieses Gefühl des "Wir gehören doch zusammen" durchzieht den Film wie ein roter Faden – und das Ende bringt die ersehnte Abrundung des Lebenskreislaufs der Schwestern. Das gemeinsam gesungene Kinderlied ist Anfang und Ende der Lebensreise.  

Hilde Ottschofski / Wertung:  * * * * (4 von 5) 
 

 

 
Filmdaten 
 
Die Zwillinge (De Tweeling) 
 
Niederlande / Luxemburg 2002
Regie: Ben Sombogaart;
Darsteller: Thekla Reuten (junge Lotte), Nadja Uhl (junge Anna), Ellen Vogel (Lotte senior), Gudrun Okras (Anna senior), Julia Koopmans (kleine Lotte), Sina Richardt (kleine Anna), Betty Schuurman (Mutter Rockanje), Jaap Spijkers (Vater Rockanje), Roman Knizka (Martin), Margarita Broich (Martha), Ingo Naujoks (Onkel Heinrich), Barbara Auer (Charlotte), Jeroen Spitzenberger (David) u.a.;
Drehbuch: Marieke van der Pol nach dem gleichnamigen Roman von Tessa de Loo; Produktion: Hanneke Niens, Anton Smit; Ausführende Produktion: Madelon Veldhuizen; Co-Produktion: Jani Thiltges; Kamera: Piotr Kukla; Musik: Fons Merkies; Schnitt: Herman P. Koerts;

Länge: 137 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; ein Film im Verleih von Kinowelt; deutscher Kinostart: 7. Oktober 2004



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Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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