Ein beeindruckender, einnehmender Film, der es fast unmöglich macht, ihn als etwas anderes als ein persönliches Statement von Peter Lorre und als ein Dokument seiner Zeit zu sehen. Der Verlorene ist die erste und einzige Regiearbeit des Schauspielers Lorre.
Lorres Biographie und Karriere ist aus verschiedenen Gründen interessant und bemerkenswert, nicht zuletzt wegen seines multikulturellen Backgrounds. Als Ladislav Löwenstein in Ungarn geboren, lebte er für einige Zeit in Wien und setzte in den späten 20ern seine Theaterkarriere in Berlin fort.
Schon seine erste Filmrolle als Kindermörder in Fritz Langs
Meisterwerk M - eine Stadt sucht einen Mörder (1931)
war ein großer Erfolg und machte ihn auch im Ausland bekannt.
Wie so oft in der Filmwelt war auch für Lorre der frühe
Ruhm nicht nur ein Segen, sondern auch ein Fluch, da er allen
"nur" als der psychopathische Mörder in Erinnerung
blieb. Als die Nazis an die Macht kamen, verließ Lorre Deutschland
und folgte wenig später Brecht und Lang nach Hollywood. Er
konnte sich in den Staaten einen Namen machen, spielte beispielsweise
mit seinem Freund Humphrey Bogart im Malteser Falken (1941)
und in Casablanca (1943). Dennoch blieb er ein typisches
Beispiel für Typecasting: Meistens wurde er als der verrückte
Bösewicht engagiert, und mit Ausnahme seiner Hauptrolle als
asiatischer Detektiv in der Mr Moto - Reihe musste er sich
oft mit Nebenrollen begnügen.
Es zog ihn zurück nach Deutschland, er wollte wieder anspruchsvolles Theater spielen und auch Regie führen.
1950 kehrt Lorre in das zertrümmerte Nachkriegsdeutschland
zurück. - Wie muss das sein, wenn man das ehemalige Heimatland
in Schutt und Asche wiederfindet?
Erst hier kommt er auf die Idee zu seinem Film, als ein Freund ihm von einer Zeitungsmeldung erzählt.
"Dieser Film ist nicht frei erfunden. Den Vorgängen liegen Tatsachenberichte aus den letzten Jahren zu Grunde." So wird die Meldung über einen "Dr. Carl R.", der Selbstmord beging, zur Grundlage von Lorres vielschichtigem Werk.
Die Hauptfigur Dr. Karl Rothe betreibt während des 2. Weltkriegs für die Nazis wichtige Forschungen.
Als er erfahren muss, dass ihn seine Verlobte Inge Hermann mit
seinem engen Mitarbeiter Hoesch betrogen und die Forschungs-Ergebnisse
an ihn verkauft hat, bringt er Inge im Affekt um. Rothe will für
seine Tat büßen und bestraft werden, doch den Nazis
liegt daran, den Mord zu vertuschen, damit Rothe weiter für
sie arbeiten kann. - In einem Staat, in dem der Massenmord an
der Tagesordnung ist, fällt ein Serienkiller mehr nicht weiter
auf. Rothe begeht weitere Morde und ändert seine Identität.
Unter einem anderen Namen arbeitet er als Arzt in einem Auffanglager
für sogenannte "Displaced Persons" - Flüchtlinge, Ausgebombte
und ehemalige KZ-Häftlinge sind dort untergebracht. Hier
trifft er durch Zufall seinen Rivalen Hoesch wieder, der ebenfalls
seine Identität gewechselt hat. Endlich sieht Rothe seine
Gelegenheit gekommen, an Hoesch Rache zu nehmen...
Genaugenommen beginnt der Film schon da, wo er endet: Ein Zug
fährt vorbei und hinterlässt eine große Rauchwolke.
Auf der gleichen Bahnstrecke wird Dr. Rothe wenig später
Selbstmord begehen. Doch vorher wird er auf Hoesch treffen und
zusammen mit ihm einen Blick zurück werfen. Man muss dem
Film anlasten, dass die Geschichte bei genauer Betrachtung der
Frage nach Logik nicht immer stand hält. Trotzdem sind die
einzelnen Elemente der Geschichte ausgesprochen beeindruckend,
und der Film ist atmosphärisch in sich stimmig. Der Titel
ist Programm. Deswegen überrascht es um so mehr, dass der
Titel Der Verlorene erst spät gewählt wurde.
Ein Arbeitstitel war Der Totmacher.
Lorre spielt als Dr. Rothe die Rolle seines Lebens, kaum hatte
er sonst die Chance, sich so facettenreich und menschlich zu zeigen.
Musste man bei einigen seiner Hollywood-Filmen befürchten,
dass er in stereotypes "Overacting" verfiel, so spielt er hier
angenehm zurückgenommen. Manchmal mit einer geradezu beängstigenden
Ruhe und Gleichgültigkeit. Es ist nicht zu verleugnen, dass
er die Tragik seines eigenen Lebens in die Rolle legte. Der Film
ist gespickt mit ironischen Selbstbezügen. Schon allein die
Tatsache, dass Lorre in seinem eigenen Film wieder einem Triebtäter
und Serienmörder spielt, dürfte schwerlich ein Zufall
sein.
Die kleine einsame Figur mit dem leeren Gesicht, eingehüllt
in einen langen Mantel mit hochgeschlagenem Kragen, über
öde Felder wandelnd und durch leere Straßen ziehend,
hinterlässt einen tiefen Eindruck. Kettenraucher Lorre hält
sich in fast jeder Einstellung an einer Zigarette fest, notfalls
noch unterstützt von einem Glas Alkohol.
Der Film ist düster gehalten - man kann ihn zum Genre des
"Film Noir" zählen - und spielt mit Licht und Schatten. Die
Schnitte sind ambitioniert. Man merkt, dass da jemand Ahnung vom
Film hat. Die Leistung muss desto höher geschätzt werden,
wenn man weiß, unter welch schwierigen Umständen die
Dreharbeiten stattfanden. Nicht nur, dass Lorre eine schwere Phase
seiner Morphiumabhängigkeit durchmachte und gerade eine Gelbsucht
überstanden hatte - dazu kam noch, dass ein Hauptdarsteller
erkrankte, das Budget knapp wurde und der Produzent mitten in
den Dreharbeiten starb.
Da die Dreharbeiten für eine Weile unterbrochen wurden, nutzte
Lorre die Zeit, um aus dem Drehbuch einen Roman zu schreiben.
Der wurde als Fortsetzungsroman von der "Münchner Illustrierten"
gedruckt, wovon man sich Werbung für den Film erhoffte. Erst
1996 wurde der Roman vom belleville-Verlag zusammen mit verschiedenen
Aufsätzen über Lorres Arbeit veröffentlicht. Vieles
wird durch den ausführlichen Roman klarer, was im Film undurchsichtig
bleibt. Für Interessierte ist das Buch in jedem Fall empfehlenswert.
Lorre schaffte es zwar, sein fertiges Werk bei den Filmfestspielen in Venedig zu präsentieren, doch danach liefen die Vorstellungen in Deutschland mehr als miserabel. In so finsteren Zeiten gab es kein Publikum für "Problemfilme", beliebt waren leichte Unterhaltungsfilme. Auch die Kritiker waren ihm nicht gnädig gestimmt. Für Lorre waren die Reaktionen mehr als vernichtend.
Als ihn keine neuen Angebote erreichten, verließ er Deutschland
nur ein Jahr später wieder - mit einer Kopie des "Verlorenen"
im Handgepäck. In seinen letzten Filmen bis zu seinem Tod
1964 ist es unübersehbar, dass es mit ihm stetig bergab geht
und er sich selbst aufgegeben hat.
Es ist traurig, dass unter den Umständen Der Verlorene
seine einzige Regiearbeit blieb und sie bis heute in den USA nicht
auf Video erschienen ist.
"Türen sind zu. Fenster sind zu. Alles hat aufgehört. Alles bleibt draußen. Auch die Furcht. Wir sind am Ende. Wir sind da."
Der Verlorene
(Der Verlorene)
Produktion: Arnold Pressburger Filmproduktion;
Regie: Peter Lorre;
Buch: Peter Lorre, Benno Vigny, Axel Eggebrecht,
nach einer Idee von Egon Jacobson;
Kamera: Vaclav Vich;
Schnitt: Carl-Otto Bartning;
Musik: Willy Schmidt-Gentner;
Darsteller: Peter Lorre (Dr. Karl Rothe), Karl John (Hoesch / Nowak), Renate Mannhardt (Inge Hermann), Johanna Hofer (Frau Hermann), Eva-Ingeborg Scholz (Ursula Weber), Gisela Trowe (Dirne) u.a.
BRD 1951 (Erstausstrahlung: 7.9.1951/8.6.1964 ZDF), 98 Minuten.