November 1999 (Rezension; veröffentlicht Juli 2004)
24. Juni 2004 (deutscher Kinostart in der Wiederaufführung)

Von der verspielten Welt des Pop


Der letzte Tango in Paris


Der letzte Tango in Paris

"Die französische Kuh", zitiert Jeanne aus einem alten Schulheft in die laufende Kamera von ihrem Liebsten Tom, "ist vollständig mit Leder überzogen. Sie hat vier Seiten: Vorne, hinten, oben und unten." Und weiter: "Der Penis: Männliches Geschlechtsorgan zur Fortpflanzung. Länge: In der Regel circa sechs bis vierzig Zentimeter."
"Liebe", wird Jeanne (Maria Schneider) später in dieselbe Kamera sagen, "ist, wenn die Mechaniker in eine Wohnung gehen, ihren Kombianzug ablegen und wieder Mann und Frau werden." Das sagt sie in einem Brautgeschäft, selbst nach einem weißgerüschten Kombi-Anzug suchend. Und es ist ein Geständnis.



Die Wohnung, Rue Jules Verne 1, Passy (Paris), vier Zimmer unmöbliert, à louer, ist der Ort, wo die zwanzigjährige Jeanne durch einen Zufall auf den fünfundzwanzig Jahre älteren Amerikaner Paul (Marlon Brando) trifft; sie ist der gelobte Ort, an dem die Welt nicht so grotesk und die Begriffe nicht auf so sonderbare Weise verklärt scheinen: Hier gibt es keine Namen, keine Herkunft, keine Erinnerung, es zählt nicht der Unterschied zwischen einer wahren Geschichte und einer unwahren, nicht der zwischen Pimmel, Schwanz, Spritze oder Queue. Was es hier stattdessen gibt, ist Schweigen und Vergessen, sich auf dem Boden wälzen und krümmen wie ein Wurm, Stöhnen und Grunzen. Was es hier gibt, so initiiert Paul, ist nicht Liebe, sondern ein Schnellfick auf einem schwankenden Floß, und sei es auch nur imaginiert. Es gibt keine Treffen außerhalb der Wohnung.

Der letzte Tango in ParisOrientierungslos, wie auf der Suche nach einem unbekannten Ziel, irrt Jeanne von einer Welt in die andere, von der Bühne vor der ständig surrenden Kamera Toms (Jean-Pierre Léaud), der, vom ersten Lächeln morgens nach dem Aufwachen bis nachts in den Schlaf, ihr Leben lückenlos für das Fernsehpublikum dokumentieren will, in die leere Wohnung und in die offenen, wartenden Arme Pauls, der scheinbar immer da ist und von dem sie, sich gleichwohl angezogen wie abgestoßen fühlend, dennoch nicht lassen kann. Dass sich das Geheimnisvolle dieses Amerikaners in Paris später in Banales verkehren wird, dass er nicht der besondere Mann ist, den sie in ihm vermutet, sondern ein ganz und gar gewöhnlicher "Maître d’Hotel", wie sie ihn eines Tages abschätzig bezeichnen wird, dessen Frau sich an dem Abend vor ihrer ersten Begegnung in einer Badewanne mit einem billigen Rasiermesser das triste Leben nahm, wodurch seines gewaltig aus den Fugen geraten ist – das soll Jeanne zu diesem Zeitpunkt noch nichtmals erahnen. Weder die redselige und verspielte Welt des Pop der 70er Jahre mit all ihren bunten Oberflächenreizen und einer Pop-Ehe mit Tom als Verheißung für die Zukunft, noch das nackte, kindliche, aller, nicht für die bürgerlichen Konventionen entkleidete Leben mit Paul kann, so faszinierend und so ursprünglich es anfangs auch sein mag, für Jeanne eine endgültige Heimat sein.

Der letzte Tango in ParisBertolucci, sich ob seiner obszönen Sequenzen sowohl verbaler wie auch visueller Art permanent dem Vorwurf der Pornographie ausgesetzt sehend, erprobt in diesem skandalumwitterten Film von 1972 alternative, postchristliche Formen menschlichen Zusammenlebens. Wenn Gott, Vater der Kirche aller Bürger, schon von Beginn an keine ernstzunehmende Rolle mehr spielt, und folgerichtig der heilige Rettungsring der Ehe, Urzelle aller kommunistischen Lebensformen, im Dreckwasser des Canal St. Martin versenkt wird, dann muss es etwas anderes anstelle dessen geben. So entwirft der Film ein zeitkritisches Porträt einer untiefen, ganz dem Glanz der Äußerlichkeit und des schnellen Effekts verfallenen Generation gar nicht aufsässiger Erben einerseits, und andererseits die Utopie einer unkonventionellen, unzivilisierten Innerlichkeit, wo die Liebe so lange eine Chance hat, wie sie sich nicht in Worten ausdrücken vermag.

Bertolucci zeigt das alles in atmosphärisch dichten, in aufreizend ruhigen, bisweilen sogar unbewegten Bildern, die sich niemals aufdrängen, niemals wie unnötige Länge erscheinen. Mal scheint es, als ob die Kamera sich vorsichtig, beinahe schleichend mit Paul und Jeanne in die unbekannte Leere des Raumes vortastet; ein Fenster wird dann geöffnet oder eine Tür, ein anderes Mal gräbt sie sich so tief in die Falten eines Gesichts ein, als suche sie etwas, als wolle sie mit Röntgenblick hinter dessen Fassade ein Verborgenes zum Vorschein bringen. Diese Sequenzen in der Wohnung kontrastieren, oftmals durch phantasievolle Schnitte verbunden – so verwandelt sich einmal das Geschnatter von Paul und Jeanne in das Geschnatter aufgescheuchter Gänse – jene draußen. Die Welt des Pop, des Paris der 70er Jahre, entfaltet sich wie vor einem stets wachsamen Auge der Handkamera des jungen Dokumentarfilmers.

Das letzte Wort aber soll den Darstellern gelten. Marlon Brando brilliert hier als verzweifelter, gottverlassener Paul, der, wenn er nicht schweigt, sich in ohnmächtigen Zynismus flüchtet, der pöbelt und obszön ist und seiner aufgebahrten Frau vergeblich durch Beschimpfungen und Vulgär-Kaskaden ihr letzte Geheimnis zu entreißen sucht, aber nur seine eigenen Tränen findet. Maria Schneider, nicht mehr Lolita, aber auch noch nicht erwachsen, ist selbst die trotzig-naive Jeanne, die von Tom visuell und von Paul sexuell vergewaltigt wird, die mehr hat, als vier Seiten und mehr ist, als nur eine Kultstätte für Pauls Schwanz.

 
Marian Blasberg / Wertung: * * * * * (5 von 5)

Quelle der Fotos: Alamode Film


Filmdaten

Der letzte Tango in Paris
(Ultimo Tango a Parigi)

Italien / Frankreich 1972
Regie: Bernardo Bertolucci;
Darsteller: Marlon Brando (Paul), Maria Schneider (Jeanne), Jean-Pierre Léaud (Tom), Massimo Girotti (Marcel), Maria Mich, Giovanna Galletti, Catherine Allégret u.a.; Drehbuch: Bernardo Bertolucci, Franco Arcalli; Kamera: Vittorio Storaro; Musik: Gato Barbieri;

Länge: 129 Minuten; Uraufführung: 14. Oktober 1972; deutscher Kinostart in der Wiederaufführung: 24. Juni 2004; ein Film in der Wiederaufführung im Verleih von Alamode Film




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Alamode Film
<24.06.2004>  



Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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