30.10.2017

Der große Diktator

Dieser Film ist die große künstlerische Abrechnung Charlie Chaplins mit dem fast auf den Tag gleichaltrigen Diktator Hitler (Geburtstage 16. bzw. 20. April 1889) auf der anderen Seite des Ozeans, der ihm – so möchte man fast meinen – seinen Schnurrbart nachgemacht hat. Es ist der erste Dialogfilm Chaplins und neben "Moderne Zeiten" sein größter Erfolg: 5 Millionen Dollar Einnahmen!

Der Film hat zwei Handlungsstränge, und die beiden Hauptpersonen werden beide von Chaplin selbst gespielt. In der ersten Handlung ist er ein namenloser jüdischer Friseur, nennen wir ihn Charlie – der sich im Ersten Weltkrieg tölpelig anstellt, mit dem Flugzeug abstürzt und sein Gedächtnis verliert. Er wohnt später in einem jüdischen Ghetto in Tomania, im Reich des Diktators Hynkel, mit dem eindeutig Hitler gemeint ist. Er schlägt sich so durch, findet auch eine Frau, wehrt sich gegen Übergriffe der sogenannten "Sturmtruppen". Zufällig gerät er in eine Widerstandsgruppe, kommt ins KZ, bricht aber wieder aus. Und jetzt gibt es eine folgenschwere Verwechslung: Diktator Hynkel ist bei einer Entenjagd ins Wasser gefallen und wird als Ausbrecher aus dem Wasser gezogen, wohingegen Charlie, der Friseur im Triumphzug nach Osterlich (= Österreich) geleitet wird. Am Schluss hält er als Hynkel eine pazifistische Rede, in der er zur Völkerfreundschaft aufruft.

Die andere Handlung zeigt den Diktator mit seiner furchtbaren Politik. Höhepunkte des Films sind zwei Szenen. In der ersten hält Hynkel eine Rede an die Nation, die Sprache ist aber ein Kunstidiom, in dem Hynkel schreit, bellt, geifert, krächzt und sich überschlägt, nur einzelne Wörter sind als "Deutsch" erkennbar, so etwa Sauerkraut, blitzen, Schtonk. ("Schtonk!" hieß dann später der Film über die Fälschung der Hitlertagebücher, 1992). Eine demagogische Rede, deren Hasspotential man ohne Worte versteht. Verstärkt wird die Wirkung durch Großaufnahmen von Hynkels fanatisch aufgerissenem Mund. Vor Angst biegen sich die Mikrophone zurück! Wenn Hynkel sich heißgeredet hat und den Beifall der Massen entgegennimmt, trinkt er ein Glas Wasser und gießt es sich auch in die Hose auf sein Genital – ein genialer Hinweis auf den orgiastischen Charakter seiner Rede. Die zweite Szene ist der berühmte Tanz mit der Weltkugel. Der Globus erweist sich als Luftballon, Hynkel tanzt mit ihm zu Wagnerklängen ein träumerisches und besitzergreifendes Ballett, all das symbolisiert die Gier nach der Weltherrschaft, aber am Schluss platzt der Traum und platzt der Globus und hängt wie ein verschrumpeltes Präservativ in seiner Hand. Chaplin hat sein Double Hitler genau angeschaut, hat Wochenschauaufnahmen studiert, hat nur durch leichte Übertreibung Hitlers schmierigen, pathologischen Charakter bloßgelegt, seine Figur ist gewissermaßen echter als der echte Hitler.

Es gibt viele komische und damit entlarvende Szenen in diesem Film. Etwa der machohafte Machtkampf zwischen Hynkel und Benzino Napaloni – gemeint ist Mussolini – die sich mit Sahnetorten bewerfen und jeweils den anderen im Höherschrauben der Friseurstühle übertreffen wollen. Oder Charlie als Friseur, der seinen Kunden im Rhythmus von Brahms' ungarischen Tänzen rasiert. Oder Wortwitze wie: "Ich hatte Sie für einen Arier gehalten! – Charlies Antwort: Bin ich ja auch: Veget-arier!" Chaplin schrieb in der New York Times: "Was das Komische an Hitler betrifft, möchte ich nur sagen, dass es, wenn wir nicht ab und zu über Hitler lachen können, noch viel schlechter um uns bestellt ist, als wir glauben. Es ist gesund zu lachen, auch über die dunkelsten Dinge des Lebens, sogar über den Tod. (...) Lachen ist ein Stärkungsmittel, Lachen erleichtert; Lachen ist eine Atempause, die es ermöglicht, den Schmerz auszuhalten." So bemüht sich Chaplin ständig, die Balance zu halten zwischen dem Lächerlichmachen der Figur Hitler und dem Mitgefühl mit den ernsthaft gefährdeten Juden.

Man kann allerdings auch negative Punkte im Film finden. Zum Beispiel wird der Faschismus doch ziemlich verharmlost: Im KZ kann man offenbar ganz gut leben, im Ghetto herrscht die Idylle einer Kleinstadt, und die Schlägereien mit der Gestapo sehen aus wie Kasperletheater, wo man mit gongenden Bratpfannen aufeinander losgeht. Die Liebesgeschichte zwischen Charlie und Hannah ist kitschig-rosig. Und schließlich die sentimentale Schlussrede: eine Predigt, ein Aufruf zur Menschenliebe, ein Appell an Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Hier spricht weder Hynkel noch Charlie, hier spricht Charles Spencer Chaplin. Nach Meinung verschiedener Filmkritiker hat Chaplin hiermit seine Hitler-Satire ruiniert, die Rede fällt aus dem Rahmen des Films, ein Stilbruch, ein gravierender Fehler. Klaus Mann sieht in der Schlussrede die Konsequenz eines gescheiterten Films: "Der Film hat keinen Stil, keinen roten Faden, keine überzeugende Kraft. (...) Er ist eine lächerliche Farce, ausgeschmückt mit geschwollenen Bekenntnissen. Chaplins Rede am Schluss des Films ist unerträglich banal."

Chaplin hat die Schwächen wohl selbst erkannt. In seiner Autobiographie schrieb er später: "Hätte ich etwas von den Schrecken in den deutschen Konzentrationslagern gewusst, ich hätte Der große Diktator nicht zustande bringen, hätte mich über den mörderischen Wahnsinn der Nazis nicht lustig machen können. Aber ich wollte unbedingt ihren mystischen Unsinn über eine reinblütige Rasse zum Gespött werden lassen." Dennoch sind sich die meisten Kritiker und die Filmfans einig: Dieser Film ist ein Meisterwerk der Filmgeschichte, eine, wie Eisenstein schrieb, "großartige, vernichtende Satire, dem Sieg des menschlichen Geistes über die Unmenschlichkeit zum Ruhm". Nach der Premiere urteilte die New York Times: "Die wahrhaft superbe Leistung eines wahrhaft großen Künstlers – und unter einem bestimmten Gesichtspunkt vielleicht der wichtigste Film, der je hervorgebracht wurde."

Zum Schluss noch die kaum überraschende Reaktion der Nazis, als sie von den Dreharbeiten erfuhren: Der deutsche Film-Kurier forderte das Einschreiten gegen Chaplins Film: "Die jüdische Minderheit darf also in den USA unbehelligt den Führer einer fremden großen Nation verhöhnen. In Frankreich ist vor einigen Tagen eine Anordnung herausgekommen, die die Verächtlichmachung fremder Staatsoberhäupter verbietet. Wann wird Amerika diese selbstverständliche Anstandspflicht zwischen Völkern aufbringen, derartige Unverschämtheiten, wie sie der Jude Charlie Chaplin im Schilde führt, zu verhindern?" Chaplin war allerdings gar kein Jude!

Übrigens: Erst 1958 kam Der große Diktator in die westdeutschen Kinos, in der DDR wurde er erstmals 1980 im Fernsehen aufgeführt.  

Manfred Lauffs / Wertung: * * * * * (5 von 5)



Filmdaten

Der große Diktator
(The Great Dictator)

USA 1940
Regie & Drehbuch: Charles Chaplin;
Darsteller: Charles Chaplin (Adenoid Hynkel, Diktator von Tomania, und der jüdische Friseur), Jack Oakie (Benzino Napaloni, Diktator von Bacteria), Reginald Gardiner (Schultz), Paulette Goddard (Hannah), Henry Daniell (Garbitsch), Maurice Moskovich (Mr. Jaeckel), Emma Dunn (Mrs. Jaeckel), Bernard Gorcey (Mr. Mann) u.a.;
Produktion: Charles Chaplin, United Artists; Kamera: Karl Struss, Roland Totheroh; Musik: Charles Chaplin mit Motiven von Wagner und Brahms; Schnitt: Willard Nico;

Länge: 125 Minuten; FSK: ab 6 Jahren (DVD); westdeutscher Kinostart: 26. August 1958



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