21.11.2023

Aus einem miefigen Milieu entspringt ein Mörder

Der goldene Handschuh

Tippt man in die Suchmaske der Wikipedia "Fritz H" ein, bietet die Autovervollständigung gleich zwei deutsche Serienmörder an. Der eine ist Fritz Haarmann, der in Hannover junge Männer tötete, laut einem ihm gewidmeten Lied "mit dem Hackebeilchen". Götz George spielte ihn in "Der Totmacher" (1995). Der andere ist der im Vergleich mit Haarmann unbekanntere Hamburger Fritz Honka. Dieser erschlug in den 1970ern ältere Frauen, die er vor allem in der Kneipe "Zum goldenen Handschuh" kennenlernte und nachhause mitnahm. Der Hamburger Regisseur Fatih Akin drehte 2019 diesen Film über Honka und seine Morde. Der Film lief im Hauptwettbewerb der Berlinale 2019. Exzellent schildert Akin nach dem gleichnamigen Roman von Heinz Strunk, wie es zu den Morden kommt, wie es am Alkohol liegt, dass der biedere Durchschnittstyp zum Monster wird. Der Alkohol – und seine Folgen – ist der heimliche 'Star' des Films, neben dem Ort, an dem er ausgeschenkt und von skurrilen Gestalten konsumiert wird.

Der Filmtitel weist auf die eher Absteige als Kneipe zu nennende Gaststätte "Zum goldenen Handschuh" hin. In ihr: Verlorene. Von der Welt Vergessene. So, wie Fritz Honka. Dort genannt "Fiete". Der leicht an ältere Frauen herankommt, weil in diesem Milieu das Selbstbewusstsein der Frauen nicht besonders hoch ist. Deswegen hagelte es Kritik von Feministinnen an Akin, einseitig schildere er arme Frauenseelen. Aber dies ist der einzige Schwachpunkt des Films. Denn das Milieu der Kneipe ist interessant und richtig wiedergegeben. Ein Stammgast ist "Dornkaat-Max" (Hark Bohm, der erneut mit Akin zusammenarbeitet). Der Spitzname betont den Alkohol-Zusammenhang. Neuankömmlinge werden auf dem Klo wortwörtlich angepisst, wie der junge Willi (Tristan Göbel). Der lässt es sich bieten, er hat keine andere Wahl.

Akzeptiert, weil alteingesessen in der Kneipe, ist Fiete. Fritz Honka wird gespielt von Jonas Dassler unter dicker Latexmaske, die den jungen Dassler nicht wiedererkennen lässt. Nur an seinen nackten Beinen und Hintern, mal zu sehen, lässt sich das Jungsein des Schauspielers erahnen. Mit Filmbeginn ist bereits eine Frau tot, soeben von Honka in seiner Wohnung umgebracht, eine Prostituierte. Er zersägt die Leiche. Der Zuschauer wird dies nicht sehen, obwohl der Film erst ab 18 Jahren freigegeben ist. Die Vorstellung reicht. Einige Leichenteile legt er ins Gebüsch, weitere Teile bleiben in seiner Mansardenwohnung. Jahre vergehen ohne weitere Morde. Nun konzentriert sich der Film auf die Kneipe und den Alkohol. Deutlich sieht man: Je mehr Letzterer fließt, desto eher dringt es in Honka erneut hoch, enthemmt zu sein. Er nimmt weibliche Gäste aus dem "goldenen Handschuh" mit nachhause wie die Prostituierte, und manches Leben endet in der immer mehr nach Leichenteilen stinkenden Wohnung. "Die Griechen unter mir kochen", erklärt Honka teilnahmslos Gästen den Geruch. Damit schneidet Akin den beiläufigen Rassismus unserer Tage wie in der damaligen Zeit ebenso beiläufig, aber doch ausdrücklich an.

Dies ist ein Aspekt des Films. Wichtiger noch war Akin das Wiedergeben des miefigen Milieus, das, vom Alkohol und vom Nikotin abhängig, den zwielichtigen, ekligen Honka in seiner Mitte eher gutheißt als den jungen, unbedarften Willi. Beide Männer bilden einen Kontrast. Dieses Milieu bebildern, wollte der Regisseur, und es ist Akin sehr gelungen. Aus der Mitte entspringt ein vom Alkohol enthemmter Mörder.

Mit dem Handschuh, nach dem die Kneipe benannt ist, ist laut außen hängendem Transparent ein Boxhandschuh gemeint. Das passt. Akins Film ist ein Schlag in die Magengrube.  

Michael Dlugosch / Wertung: * * * * (4 von 5)



Filmdaten

Der goldene Handschuh


Deutschland/Frankreich 2019
Regie: Fatih Akin;
Darsteller: Jonas Dassler (Fritz Honka), Vasiliki Georgina Pseimada (Griechisches Mädchen (1970)), Christine Jensen (Frau Rix), Greta Sophie Schmidt (Petra Schulz), Tristan Göbel (Willi), Hark Bohm (Dornkaat-Max), Melanie Welker (Cola-Rum-Waltraud), Margarete Tiesel (Gerda Voss), Lars Nagel (Nasen-Ernie), Uwe Rohde (Herbert), Simon Goerts (Anus), Victoria Trauttmansdorff (Gisela), Heinz Strunk (Kriegsveteran), Dirk Böhling (Soldaten-Norbert), Lotta Töller (Korn-Uschi), Adam Bousdoukos (Lefteris), Ella Sophie Parisi (Griechisches Mädchen (1974)), Marc Hosemann (Siggi), Barbara Krabbe (Anna), Herma Koehn (Hertha), Tilla Kratochwil (Inge), Sascha Nürnberg (Schläger), Kai Detig (Mann im Anzug), Peter Badstübner (Tampon-Günther), Dietrich Kuhlbrodt (Bulgaren-Harry) u.a.;
Drehbuch: Fatih Akin nach dem Roman von Heinz Strunk; Produzenten: Fatih Akin, Nurhan Sekerci-Porst, Herman Weigel; Kamera: Rainer Klausmann; Musik: FM Einheit; Schnitt: Andrew Bird, Franziska Schmidt-Kärner;

Länge: 115 Minuten; FSK: ab 18 Jahren; deutscher Kinostart: 21. Februar 2019



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Zitat

"Was soll das denn sein - wo du doch Schauspieler sein kannst? Da will man doch nicht Arzt werden!"

Die Reaktion der schauspielernden Eltern von Michael Verhoeven (13. Juli 1938 - 22. April 2024) auf seinen Wunsch, Medizin zu studieren - er wurde Regisseur ("o.k.", "Die weiße Rose"), Schauspieler ("Das fliegende Klassenzimmer" (1954), "Der Pauker") und Arzt

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