24.02.2024

Das Lehrerzimmer

"Die Wahrheit besiegt alle Dinge" (VINCIT OMNIA VERITAS) - das alte lateinische Zitat steht an der Wand im Flur des Gymnasiums. Aber was ist die Wahrheit? Genau weiß man das am Schluss des Films nicht, und man muss als Zuschauer mit diesem offenen Ende leben. Auf der Suche nach der Wahrheit verstrickt sich die junge Mathematik- und Sportlehrerin Carla Nowak in immer neue Konflikte und zerbricht fast daran. Ein starkes, fesselndes Stück Kino, das den Deutschen Filmpreis 2023 in fünf Kategorien gewann und mit vier weiteren Produktionen als bester internationaler Film für den Oscar nominiert wurde.

An der Schule gibt es einige Diebstahlsfälle, und da das Null-Toleranz-Prinzip herrscht, wird alles versucht, um diese Fälle aufzuklären. Allerdings mit zweifelhaften Methoden. So sollen alle Schüler einer Klasse ihre Portemonnaies vorzeigen und auf einer Liste die Namen von Schülern ankreuzen, die sie für verdächtig halten. Carla lässt im Lehrerzimmer mit ihrer Laptop-Kamera eine heimliche Videoaufnahme laufen, auf der man eine Person sieht, die eine gemusterte Bluse trägt und sich an Carlas Jacke zu schaffen macht. Carla glaubt, es handele sich um die Sekretärin Frau Kuhn, die Mutter von Oskar, einem ihrer besten Schüler. Es häufen sich Verhöre, Verdächtigungen, Streitgespräche im Kollegium. Oskar wird als "Sohn einer Verbrechermutter" gemobbt, stiehlt Carlas Laptop, schlägt ihr damit ins Gesicht, flieht und wirft ihn schließlich in den Fluss. Trotz eines Hausverbots erscheint er wieder in der Schule, verlässt das Klassenzimmer nicht freiwillig und wird von zwei Polizisten hinausgetragen.

Es geht in diesem Film um ebenso wichtige wie aktuelle Themen: Idealismus, Vorurteile, Kommunikation, Gerechtigkeit, Rassismus, Diskussionskultur. Für Ilker Çatak, Regisseur und Co-Drehbuchautor, ist die Schule als System "ein Abbild unserer Gesellschaft. Schule ist ein gutes Spielfeld, weil sie unsere Gesellschaft als Mikrokosmos, als Modell zeigt: Ein zentraler Aspekt für mich ist die Wahrheitsfindung, die Wahrheitssuche oder wie man sich die Wahrheit zurechtlegt. Auch die Frage, woran man glaubt, wird gestellt. [...] Fake News, Cancel Culture oder etwa das Bedürfnis einer jeden Gesellschaft nach einem Sündenbock – das sind weitere Themen von DAS LEHRERZIMMER".

Schon von Anfang an wird ein Gefühl der Verstörung vermittelt. Das Klima an dieser Schule ist angespannt, gereizt, hier ist einiges nicht in Ordnung. Untermalt wird diese Atmosphäre durch die beunruhigende Musik von Marvin Miller. Die Kamera folgt der im Mittelpunkt stehenden Lehrerin Carla Nowak auf Schritt und Tritt, filmt sie von hinten und von vorne, oft in Großaufnahme. Carla wirkt vereinsamt und verloren in dem Schulgebäude, man sieht sie oft hinter Fensterscheiben, Fenster- und Türrahmen engen sie ein, ihr Handlungsspielraum ist eingeschränkt, das enge Bildformat 4:3 verstärkt diesen Eindruck.

Carla ist jung, engagiert und schülerfreundlich, vertritt Werte wie Demokratie und Gerechtigkeit. Aber sie gerät mit allen in Streit: mit der Schulleitung, mit den Kollegen, mit den Schülern, mit den Eltern. Sie sitzt zwischen allen Stühlen. Sie will die Wahrheit finden, aber gerade das wird zum Problem. Sie erklärt ihren Schülern, dass jeder Beweis eine genaue Herleitung braucht, aber sie hält sich selbst nicht daran, wenn auf dem Video das Muster der Bluse von Frau Kuhn für ihre Anklage ausreicht. So entwickelt sich eine tragische Eskalation, in der jeder sich seine eigene Wahrheit zimmert. Die schauspielerischen Leistungen sind exzellent. Leonie Benesch als Carla überzeugt durch ungemein sensible und realistische Gestaltung ihrer Rolle. Überhaupt wirken auch das Kollegium und die Schüler vollkommen natürlich, der Film fast dokumentarisch. Der Deutsche Filmpreis ging zu Recht nicht nur an Leonie Benesch für die beste weibliche Hauptrolle, sondern auch an Ilker Çatak für die beste Regie und das beste Drehbuch.

Den Rahmen der Handlung bildet das Schulgebäude, das kalt und abweisend wirkt: Wir sehen oft leere Räume und Flure, statische Zentralperspektiven, kaltes Blau als hervortretende Farbe. "Wir zeigen eine Schule von vorgestern im Heute, weil die Schule von Heute von vorgestern ist", sagt der Produzent des Films Ingo Fliess. Darüber kann man diskutieren. Wie soll die ideale Schule aussehen? Wie geht man mit dem Pisaschock um? Was ist guter Unterricht? Der Film beabsichtigt keine Schulkritik, lädt aber dazu ein, über Lösungen nachzudenken.

Er selbst bietet keine klare Lösung. Die Situation bleibt verfahren. Am Ende wird Oskar auf seinem Stuhl von Polizisten aus dem Schulhaus getragen. Auffällig ist allerdings, dass er dabei nicht wie Verlierer, sondern eher wie ein König wirkt. Als er den Zauberwürfel zurückgibt, den Carla ihm geliehen hat, zeigt er, dass er ein mathematisches Problem mithilfe eines Algorithmus gelöst hat. Der Zauberwürfel ist ein wichtiges Symbol in diesem Film. Vielleicht kann man auch bei zwischenmenschlichen Problemen Lösungen finden, wenn man "mathematisch-logisch" und "handlungsorientiert" vorgeht. Einmal wird in der Klasse ein Referat über Sonnenfinsternisse gehalten. Die hielt man früher für Strafen Gottes, bis die Menschen selbst die richtigen Fragen stellten. Um etwas "aufzuklären" - so kann man die Szene verstehen -, muss man nichts "glauben", sondern seinen Verstand einsetzen.  

Manfred Lauffs / Wertung: * * * * * (5 von 5)



Filmdaten

Das Lehrerzimmer


Deutschland 2023
Regie: Ilker Çatak;
Darsteller: Leonie Benesch (Carla Nowak), Michael Klammer (Thomas Liebenwerda), Rafael Stachowiak (Milosz Dudek), Anne-Kathrin Gummich (Dr. Bettina Böhm), Eva Löbau (Friederike Kuhn), Kathrin Wehlisch (Lore Semnik), Sarah Bauerett (Vanessa König), Leonard Stettnisch (Oskar), Oscar Zickur (Lukas), Antonia Luise Krämer (Jenny), Elsa Krieger (Hatice), Vincent Stachowiak (Tom), Can Rodenbostel (Ali), Padmé Hamdemir (Lieun), Lisa Marie Trense (Luise), Uygar Tamer (Frau Yilmaz, Alis Mutter), Özgür Karadeniz (Herr Yilmaz, Alis Vater) u.a.;
Drehbuch: Johannes Duncker und Ilker Çatak; Produzent: Ingo Fliess; Kamera: Judith Kaufmann; Musik: Marvin Miller; Schnitt: Gesa Jäger;

Länge: 98 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; deutscher Kinostart: 4. Mai 2023



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Zitat

"Was soll das denn sein - wo du doch Schauspieler sein kannst? Da will man doch nicht Arzt werden!"

Die Reaktion der schauspielernden Eltern von Michael Verhoeven (13. Juli 1938 - 22. April 2024) auf seinen Wunsch, Medizin zu studieren - er wurde Regisseur ("o.k.", "Die weiße Rose"), Schauspieler ("Das fliegende Klassenzimmer" (1954), "Der Pauker") und Arzt

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