23.06.2014
Wer will ich sein, und wenn ja, warum?

Boyhood


Boyhood "Was ist'n das?" stutzt Mason, als sein Vater ihn mit neuer Freundin und Baby in einem wuchtigen Van abholen kommt. "Das ist unser neues Auto", sagt dieser lapidar. Es folgt eine wortreiche Erklärung, die darin mündet, dass er den Pontiac GTO, einen eleganten Sportwagen mit sanft geschwungenen Konturen, verkauft hat, um die gediegene Familienkutsche zu finanzieren. "Der Wagen ist weg?!" Entsetzen, Ungläubigkeit und Schmerz spiegeln sich in Masons Blick – vor allem angesichts der Tatsache, dass sich sein Vater nicht mehr an ein für ihn zentrales Versprechen erinnern kann: "Du hast gesagt, wenn ich sechzehn bin, gehört er mir." Der Vater streitet ab, flüchtet sich in Ausreden, lacht nervös, spielt die Gefühle des Sohnes herunter – und wieder ist eine Möglichkeit zur Nähe zerstört, eine angenommene Verbindlichkeit zerbrochen.

Szenen wie diese, verteilt über zwölf Jahre und erzählt in knapp drei Stunden, sind es, die einem die Entwicklung Masons vor Augen führen und einem die Person nahebringen. Anhand eines Einzelschicksals werden immer wieder Generationenphänomene illustriert. Gleichzeitig ist Richard Linklaters Spielfilm "Boyhood" mehr als eine Coming-of-Age-Geschichte: Er ist ein reiches und vielschichtiges Dokument der letzten zwölf Jahre unserer Zeit, eine präzise psychologische Skizze und nicht zuletzt das anschauliche Portrait eines Bundesstaates – Texas –, in dem alternative Rockbands neben tiefreligiösen, Waffen verherrlichenden Baptisten existieren.

Boyhood "Boyhood" erzählt vom Erwachsenwerden entlang einer Kette von Ereignissen, die sich als unverrückbare Pfeiler ins Leben eines Kindergartenkinds, eines Teenagers und eines jungen Mannes rammen. Von Beziehungen in Patchwork-Familien, die nur bruchstückhaft Geborgenheit und Sicherheit bieten. Von US-Alltagskultur – dem Konsum von Videospielen, dem Ansehen eines Baseballspiels, dem hastigen Herunterkippen des ersten heimlichen Biers – und von zeitgeschichtlichen Ereignissen wie Obamas Wahlkampf. All dies wird begleitet von behutsam ausgewählten und gekonnt arrangierten Songs, wodurch in der Gesamtheit ein Soundtrack entsteht, der den Film um eine weitere Bedeutungsebene ergänzt.

Linklater filmte über ein Dutzend Jahre, immer ein paar Tage im Jahr, stets mit denselben Schauspielern, die man im Zeitraffer altern und reifen sieht. Er erstreckt sich über einen Zeitraum von drei Präsidentschaften, zwei Kriegen, der Erfindung von Facebook und dem Hereinbrechen der Finanzkrise. Schon dieses Setting macht den ungewöhnlichen Reiz des Projekts aus.

Boyhood Die alleinerziehende Olivia (Patricia Arquette) lebt bereits vom Vater ihrer Kinder (Ethan Hawke) getrennt, als die Handlung einsetzt. Unübersehbar wichtig ist ihr die Rolle als verantwortungsvolle Mutter, zielsicher trifft sie die Entscheidung, ein Psychologie-Studium aufzunehmen, um besser für den kleinen Mason (Ellar Coltrane) und seine Schwester Samantha (Lorelei Linklater, die Tochter des Regisseurs) sorgen zu können. Während Samantha nur so vor Lebensfreude und Selbstvertrauen strotzt, die Mutter erfrischend frech in die Schranken weist und nebenbei lauter Einsen nach Hause bringt, gibt sich Mason stiller und nachdenklicher. Als seine Mutter ihm nicht auf die Frage antworten kann, was der Vater in Alaska denn so mache, flüchtet er sich in eine Kinderphantasie: "Dort zähmt er sicher Eisbären oder so." Seine Mutter lächelt ein wenig gequält: "Ja, und ich hoffe, die zähmen ihn!"

Die Handlung wirkt nicht dramatisch, die narrative Struktur – erzählt wird klassisch linear, ohne Rückblenden – erscheint unprätentiös. Aus Sicht des jungen Mason jedoch wird die Welt durch plötzliche Ortswechsel, die neuen Männer der Mutter – die "Parade der saufenden Arschlöcher", wie er später sagen wird – und nicht zuletzt die Unsicherheit darüber, was der eigene Vater empfindet und wie er lebt, immer und immer wieder neu definiert. Anders als in Truman Capotes Grasharfe werden die Jahre zwischen elf und sechzehn für den Protagonisten keine wunderbaren, sondern verunsichernde sein, wenn auch mit zumindest teilweise schönen und sogar wunderbaren Momenten.

Nach dem Umzug nach Houston, wo Olivia – 'Liv' – glauben wird, mit einem deutlich älteren Psychologie-Professor den Traum von einer heilen Familie doch noch verwirklichen zu können, finden sich Mason und Samantha in einer neuen Konstellation wieder: Bill bringt zwei eigene Kinder mit in die Beziehung, aus den Stiefgeschwistern werden rasch Freunde. Einer der schönen Momente: Wenn Bill den kleinen Mason beim "Activity"-Spielen durchkitzelt, nachdem Mason blitzschnell erraten hat, dass die Gesten, mit denen der "neue Dad" erst einen Vogel, dann eine Haube imitiert, Robin Hood darstellen sollen. "Du bist ein intelligentes Kind!" ruft er freudig und kuschelt sich an den Kleinen. Einige Einstellungen später wird er alkoholisiert ein Glas nach ihm werfen – und Olivias Kopf gegen die Wand.

Diese zieht die Konsequenzen und zieht um – nach San Marcos, Station Nummer drei, zu der auch bald Ehemann Nummer drei gehören wird.

Der Soundtrack führt einen dazu durch die Zeit: Während Sheryl Crows "Soak Up The Sun" klarmacht, dass wir uns am Anfang der 2000er Jahre befinden, wird Gotyes "Somebody That I Used To Know" auf Olivias Halloween-Party gespielt, wo er einerseits als Unterhaltungsmusik fungiert, andererseits bereits auf das Ende der nächsten Beziehung der Mutter mit dem dritten Ehemann verweist, die sich hier doch gerade erst anbahnt.

Für Masons leiblichen Vater sind selbstkomponierte Songs, die er zur Gitarre singt, ein Mittel, Nähe zu seinen Kindern herzustellen – sehr rührend, aber nicht kitschig etwa die Szene, in der beide Kinder bei ihm übernachten, und er im Lied über die Situation reflektiert: "Mother's got a new husband / He seems alright / I wonder whether he's singing them songs / And kissing them goodnight." Denn dies wird ebenfalls spürbar: das Bemühen, unter allen Umständen doch Vater, und zwar ein guter, sein zu wollen.

Es ist der Präzision der Dialoge, der Stimmigkeit noch der alltäglichsten Szenen sowie der starken Gestik und Mimik des Hauptdarstellers Coltrane zu verdanken, dass wir bald unmerklich ein sehr deutliches Bild der Figur Mason gewinnen. So scheint es offensichtlich zu sein, dass dem künstlerisch interessierten, introvertierten jungen Mann die Geschenke zu seinem sechzehnten Geburtstag – ein Gewehr, eine Bibel und ein Anzug – wenig gefallen werden, er aber ebenso offensichtlich nichts anderes tun wird, als sich höflich zu bedanken.

Erst mit dem Auszug von zu Hause fallen die von außen definierten Grenzen weg, die Restriktionen, die sich nicht nur wie Pfeiler in sein bisheriges Leben rammten, sondern auch den Raum abstecken, innerhalb dessen er sich bewegen konnte. Gegen Ende illustriert "Deep Blue" der kanadischen Indie-Rockband "Arcade Fire" den Beginn der Zeit, ab der Handlungen gemeinhin als selbstbestimmt gelten können. Die Textzeilen "Here / Are my place and time / And here on my own skin / I can finally begin" sind somit durchaus programmatisch zu verstehen: Der Amerikanische Traum vom Neuanfang liegt vor Mason. Ein Anfang, der sich aufregend anfühlt – auch wenn er keinen GTO sein Eigen nennen kann: ein Auto, das zuletzt in den USA mit dem Claim "We build excitement" verkauft wurde.  

Jasmin Drescher     
 

Quelle der Fotos: Universal Pictures

 
Filmdaten 
 
Boyhood (Boyhood) 
 
USA 2014
Regie & Drehbuch: Richard Linklater;
Darsteller: Ellar Coltrane (Mason), Patricia Arquette (Mutter), Ethan Hawke (Vater), Elijah Smith (Tommy), Lorelei Linklater (Samantha) u.a.;
Produktion: Richard Linklater, Jonathan Sehring, John Sloss, Cathleen Sutherland; Kamera: Lee Daniel, Shane F. Kelly; Schnitt: Sandra Adair;

Länge: 165,36 Minuten; FSK: ab 6 Jahren; ein Film im Verleih der Universal Pictures International Germany GmbH; deutscher Kinostart: 5. Juni 2014

Auszeichnungen:
Berlinale 2014:
Richard Linklater: Beste Regie



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Zitat

"Ich freue mich, wenn es regnet. Denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch..."

Schauspieler und Komiker Karl Valentin

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