Oktober 2001
"Hallo Nachbar, Lust auf ’ne Tour?"
Blue Velvet
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Geahnt hatten wir schon von klein auf, dass jener verkrampften Beschwörung der guten, heilen Welt eine mindestens ebenso muskulöse Antithese der bösen, kaputten Welt entgegenwirkt. Aber David Lynch war einer der ersten, die uns sogar das Enthaltensein der einen in der anderen gezeigt haben. In jeder Faser der Fernsehfamilienidylle der Beaumonts (schöne Welt) steckt schon das Unheilvolle, vom Traum zum Alb mutierende, so als lebe in der frommen Lüge die gottlose Wahrheit. Lynch zeigt das nicht plakativ, wie z.B. ein John Waters das täte, er gibt sich nur bis zur Naivität aufgeschlossen den unheilvoll harmlosen Kleinstadt-Bildern Lumbertons und seiner Bewohner hin, und kommt ihnen und ihren amerikanischen Codes dadurch näher als ein a priori Skeptiker das täte.
Zusammen mit Sandy (Laura Dern), der Tochter des Inspektors, spielt er Detektiv. Er ermittelt aus einem Versteck heraus, wird dadurch zum Voyeur, - und wir mit ihm. Jeffrey ist rein und unschuldig verliebt in die ebensolche Sandy, schmutzig und verdorben in Dorothy Vallens (Isabella Rossellini) und beides gleichzeitig. Klare Freudsche Muster: Die helle, reine, unschuldige ist die Blondine. Die kranke, gedemütigte, erotisierende ist die Schwarzhaarige. In "Blue Velvet" ist Sex stets verknüpft mit Macht, Unterdrückung, Gewalt, Perversion und Psychose. Liebe dagegen schließt die Libido scheinbar aus. Wir sehen zwar, dass Sandy und Jeffrey sich küssen, aber dieser Kuss ist eher die Besiegelung zärtlicher Verbundenheit als der Beginn eines Vorspiels. Dorothys Kuss dagegen und ihre sadomasochistischen Wünsche wecken in Jeffrey abgründige sexuelle Begierden. Der expressivste Charakter und das Konzentrat dieser Abgründigkeiten ist zweifelsohne Dennis Hopper als Frank Booth (Abraham Lincolns Mörder trug übrigens denselben Namen). Als Hopper das Drehbuch für "Blue Velvet" gelesen hatte, rief er Lynch an und erklärte, er müsse den Frank Booth spielen, weil er Frank Booth sei. Lynch: "Ich saß in der Klemme, denn ich hatte nicht die geringste Lust mit jemandem wie Frank Bekanntschaft zu machen. [Lacht]" (aus "Lynch über Lynch") Vermutlich ist Frank Booth tatsächlich für Hopper die Rolle seines Lebens. Selten sah man ihn so auf dem Punkt, wie hier als der komplex psychotische, von merkwürdigen Drogen abhängige Booth (er inhaliert z.B. immer wieder ein Gas, das er in einer Flasche mit sich führt). Antrieb für alle seine Taten scheint seine Impotenz zu sein. Um sich Dorothy gefügig zu machen, entführte er ihren Sohn und Ehemann, und schnitt letzterem das Ohr ab. Nur die Anwendung einer Mixtur aus Drogen, Gewalt, daraus resultierender Macht, Sadomasochismus und Fetischismus (blaue Samtfetzen, die er sich und seinen Opfern in den Mund steckt) scheint ihm einen Rest von Befriedigung verschaffen zu können. Als Anführer eines kriminellen Freundeskreises ist jedes zweite seiner Worte: "fuck", aber sicher fühlt er sich nur im Verborgenen, Dunklen, wo keiner merkt, dass er gerade das nicht mehr kann. Unfähig zu Gefühlen, Kommunikation und Beischlaf kommt sein "Liebesbrief" aus seiner "Kanone": ein männlicher Konflikt mit einer männlichen Lösung... Isabella Rossellini spielt sein Opfer mit einer Offenheit, die zum Äußersten geht. Sie - damals als Top-Fotomodell unter Vertrag - zeigt ihren Körper als verletzlich, versehrt, deformiert. Manchmal wirkt ihre (missbrauchte) Nacktheit nahezu krankhaft aufgedunsen und morbide. Das Darstellen des Hässlichen (einer eigentlich schönen Frau), gepaart mit innerer Verzweiflung, geht weit über das übliche Kino-Frauenbild hinaus. Es wirkt wie ein Sinnbild der Frau als Unterdrückte und Sexualobjekt. Wenn Rossellini später geschunden, geschändet und nackt in Jeffreys Vorgarten steht, ist das ein Bild von Ausbeutung und Deprivation, das seinesgleichen sucht. Auch wenn Lynch sich massiv gegen eine solche Verallgemeinerung wehren würde: Natürlich herrscht Frank mit Gewalt über Dorothy, um ihren Körper benutzen zu können. Natürlich hatten und haben Männer mehr Macht, weil sie sich nicht genieren, Gewalt anzuwenden.
Wir sehen gepflegt-geordnetes amerikanisches Bürgerleben in der aufregendsten Skizzierung, wir sehen die definitive Artikulation der Impotenz (Hopper, seine beste Rolle), wir sehen wirklich verlorene Wesen (Rossellini, ihre beste Rolle), wir sehen den Entwicklungsroman (MacLachlan, seine beste Rolle). Aber wenn uns beim Happy-End wieder der Feuerwehrhauptmann zuwinkt, haben wir Heranwachsenden endgültig gelernt: Diese seltsame Welt da draußen jenseits der Lincoln Street ist gar nicht wirklich erforscht und besiegt, denn sie ist noch undurchdringlicher, mächtiger und verschlingender geworden, und ihre Flammen züngeln in unsere Fernsehserienfamilienwelt hinüber - seit wir auf sie einen genüsslich masochistischen Blick werfen durften, und wir wissen, dass sie auch in uns selber existiert. Ich glaube, David Lynch ist kein Träumer, sondern einer der wenigen Realisten des amerikanischen Kinos, mit einem scharfen und mutigen Blick für die innere Logik individueller aber auch sozialer Psyche. "Psychic Reality" hat das mal jemand genannt. Aber das besonders Nette an Lynch ist, dass er uns neben dem Schauder auch den Spaß an dieser unserer unheilen psychischen Realität vermittelt. "Blue Velvet" ist einer der wenigen Filme Lynchs, in denen das Surreale zwar angedeutet aber noch weitestgehend von einer in sich schlüssigen Handlung losgelöst existiert. In seinen späteren Filmen "Wild At Heart" (1990), "Twin Peaks - Fire Walk With Me" (1992), "Lost Highway" (1996) und "Mulholland Drive" (2001) sind surreale und reale Elemente gleichberechtigte, miteinander untrennbar verwobene Handlungsbestandteile, wie auch zuvor schon in "Eraserhead" (1976). "Der Elefantenmensch" (1980) arbeitet, wie auch der Science-Fiction-Film "Dune" ("Der Wüstenplanet", 1984) mit ausdrucksstarken Traumsequenzen, ohne sie als real zu apostrophieren, und einzig "The Straight Story" (1999) scheint ohne Irrationales auszukommen,- wäre da nicht die Szene mit der Autofahrerin, die, um die Rehe zu verscheuchen, auf Landstraßen so laut sie kann "Public Enemy" aufdreht, und dennoch jedes Mal eines totfährt. Aber das gehört woanders hin...
Andreas Thomas
/ Wertung:
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(5 von 5)
Filmdaten Blue Velvet (Blue Velvet) USA 1985 Regie & Drehbuch:David Lynch; Kamera: Frederick Elmes, Joe Dunton (Widescreen-Kamera); Musik: Angelo Badalamenti; Schnitt: Duwayne Dunham; Darsteller: Kyle MacLachlan (Jeffrey Beaumont), Isabella Rossellini (Dorothy Vallens), Dennis Hopper (Frank Booth), Laura Dern (Sandy Williams), Dean Stockwell (Ben), Hope Lange (Williams), George Dickerson (Detective Williams), Brad Dourif (Raymond), Jack Nance (Paul) u.a. Länge: 120 (V.115/114) min. - Scope FSK: ab 18 Jahren; feiertagsfrei (gek. 16) Prädikat: wertvoll Verleih: Concorde; VCL/Virgin (Video); Erstaufführung: 12.2.1987/31.8.1987 Video Fd-Nummer: 26040; Produktionsfirma: De Laurentiis Entertainment Group; Produktion: Fred Caruso
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