
Ein harmonisches Paar gleitet langsam in einer Kutsche durch einen
herbstlichen Park. Doch der Schein des Glücks trügt: Die Frau weist jede
vorsichtige Zärtlichkeit des Mannes von sich. Plötzlich hält das Gefährt. Auf
Geheiß des Mannes springen ihm die beiden Kutscher bei und helfen
ihm, die Frau aus der Kutsche zu tragen. Sie zerren sie ins Gebüsch,
fesseln sie an einen Baum, reißen ihr die Kleider vom Leib und peitschen
sie aus. Dann vergehen sie sich an ihr. Übergangslos ist im nächsten
Moment eine großbürgerliche Wohnung zu sehen. Die Frau, Séverine, liegt,
in diesen insgeheim masochistischen Traum versunken, auf ihrem Bett,
das durch einen Nachttisch vom dem ihres Mannes Pierre, eines
angesehenen Chirurgen, getrennt ist. Auch wenn die Bilder gebannt
scheinen, die Atmosphäre des Paares in der Kutsche bleibt. Séverine geht
auf keinen der leisen Annäherungsversuche von Pierre ein.
Als Séverine von dem Etablissement der Madame Anais erfährt, in dem
sich Huren ihren Kunden verkaufen, versucht sie, sich während der
Abwesenheit ihres Mannes am Tage dort fremden Männern hinzugeben.
Fortan ist sie Belle de Jour, die Schöne des Tages, die zwischen zwei und
fünf am Nachmittag als Edelprostituierte ihren Dienst verrichtet.
Der Surrealist Luis Buñuel arbeitete bei seinen ersten Filmen, Ein
andalusischer Hund (Un chien andalou, 1928) und Das goldene Zeitalter
(L'age d'or, 1930), mit Salvador Dalí zusammen. Vielen seiner Werke
wohnt ein selten aggressiver Antiklerikalismus inne. Belle de Jour nimmt
sich nicht aus. Sei es eine scheinbar nebensächliche Bemerkung eines
Restaurantgastes, er würde sich in einem Lokal nie langweilen - es sei
nicht so wie in der Kirche, wo man mit seiner Seele allein sei - oder seien
es die religiös-masochistischen Seiten von Séverine. Neben der Kirche ist
die Bourgeoisie der zweite Angriffspunkt des Künstlers Buñuel. Die
konservierten Moralvorstellungen des Großbürgertums lassen bei
Sévérine in persönlichen Beziehungen nie Emotionen zu. In zwei Welten,
die sich im Bild durch Raum und Personen definieren, existiert Sévérine.
Nur in der Anonymität des lebenslustigen Etablissements der Madame
Anais kann sie als Belle de Jour einengende Konventionen, Schamgefühle
und Gewissensbisse, die in Sühne enden sollen, abschütteln. Ihr
Ehemann in ihrer gemeinsamen sterilen Wohnung hingegen, lässt sie ihn
kalt und präzise wissen, habe mit Genuss und Lust nichts zu tun.
Cathérine Deneuve spielt diese Séverine großartig. Eine anämische Figur
mit blondem Haar und zerbrechlichen Gliedern. Unnahbar, kühl und
unbeweglich, schließlich fragil und frigid - eine Ikone. Gerade diese
Erscheinung steht im besonderen Kontrast zu den Komplexen und Lastern
unter ihrer Oberfläche. Cathérine Deneuve drehte mit Tristana (Tristana,
1969) einen weiteren Film mit Luis Buñuel. Auch Jean
Sorel als Pierre und Michel Piccoli als Bekannter des Paares, ein
diabolischer, gesättigter Lebemann, überzeugen in ihren Darstellungen.
Belle de Jour ist eine perfekt doppelbödige Inszenierung. Die
verschiedenen Ebenen von Traum, Vorstellung und Realität, die sich in der
ersten, oben beschriebenen Sequenz des Filmes andeuten, durchdringen
den gesamten Film. Durch die wiederholte Verwendung von bestimmten
Bildern und Tönen vermischen sich die Ebenen, bis sie nicht mehr zu
trennen sind. Am Schluss ist unklar, wer Träumer und was das Geträumte
ist. Es bleibt Zweifel, ob Traum oder Wirklichkeit näher an der Wahrheit
liegt als das jeweils andere.
Die Antworten auf das Streugebilde von Fragen und Andeutungen sind
dabei folglich nicht unbedingt im Konkreten zu suchen: Ein
asiatischstämmiger Kunde von Madame Anais trägt einen kleinen,
mysteriösen Kasten mit sich, aus dem nicht zu bestimmende Laute dringen.
Nach einem Blick in das Innere, das dem Zuschauer vorenthalten wird,
wenden sich alle Mädchen entsetzt ab, nur Belle de Jour bleibt. In seinen
Erinnerungen beschreibt Buñuel, dass ihm zu seinen Filmen oft unnütze
Fragen gestellt würden. Am hartnäckigsten sei er aber nach diesem
Kästchen gefragt worden. "Was ist in dem Kästchen?", wollte man von
Buñuel wissen. Da er jedoch keine Ahnung hatte, konnte er lediglich
antworten: "Was Sie wollen."
Notiz der Redaktion: "Belle de Jour" kam am 20. Juli 2017 erneut in die deutschen Kinos in digitaler Überarbeitung mit 4K-Qualität zum 50. Jubiläum des Films.
Belle de Jour - Schöne des Tages
(Belle de Jour)
Frankreich / Italien 1967
Regie: Luis Buñuel;
Darsteller: Cathérine Deneuve (Séverine Serizy), Jean Sorel (Pierre Serizy), Michel
Piccoli (Henri Husson), Geneviève Page (Madame Anais), Pierre Clémenti (Marcel) u.a.;
Drehbuch: Luis Buñuel, Jean-Claude Carrière nach dem Roman
von Joseph Kessel;
Kamera: Sacha Vierny;
Schnitt: Louisette Hautecoeur;
Länge: 100 Minuten;
FSK: ab 18 Jahren; westdeutscher
Kinostart: 15. September 1967; Wiederaufführung ab 20. Juli 2017
Auszeichnungen:
Goldener Löwe Venedig 1967 (Luis Buñuel), Premio Francesco Pasinetti Venedig 1967
(Bester Film), Bodil Festen Kopenhagen 1968 (Bester europäischer Film und Luis
Buñuel als Regisseur)