03.10.2014

Ayiti Toma, The Land of the Living


Ayiti Toma, The Land of the Living Joseph Hillel zeichnet ein schönes, weil komplexes Bild eines Landes, das in der westlichen Welt zur Blaupause von Spendenaufrufen degradiert wurde. Erdbeben, Krankheit, Armut mit vielen weißen UN-Fahrzeugen und Unmengen von Säcken mit Reis aus den USA. Das sind die typischen Dinge, die man wohl mit dem Land Haiti in Verbindung bringen kann. Hillel zeigt, dass dieses simple Bild durch ein reichhaltiges und vielschichtiges abgelöst werden muss.

Als erstes sieht man wie in Venedig schaukelnde Boote am Ufer des Landes im Morgengrauen. Ein reges Treiben beginnt, wächst an mit jedem weiteren Sonnenstrahl, der den nächsten Morgen ankündigt. Erst bei Tageslicht sieht man die heruntergekommenen Boote und veralteten Motoren. Geschäftig sehen die Menschen aus, zwischen zerstörten Häusern und Unmengen von Plastikbehältern. Die Szenerie der alltäglichen Gegenstände erscheint wie ein Fremdkörper zwischen den Haitianern und ihrer atemberaubend schönen Natur. Die Zivilisation als unpassendes Element im Ganzen. Sie scheinen sich wohl oder übel dieser angenommen zu haben. Hillel zeigt das Land in allem, was es seinen Bewohnern bietet und womit es sie auch quälen kann: In all seiner natürlichen Pracht und seinen heruntergekommenen Bauten, die immer noch Spuren der Erdbebenverwüstung tragen. Rituelle Tänze wirken mit jedem Mal etwas weniger verrückt. Die Sprecher der Dokumentation schaffen schnell Verständnis für den Rahmen.

Die Erzähler der Dokumentation könnten nicht unterschiedlicher sein, was den Zauber und die Wirrungen von Haiti noch mehr zum Vorschein kommen lässt. Neben Voodoo-Priestern kommen örtliche Ökonomen und Soziologen, politische Vertreter, ein amerikanischer NGO-Geschäftsführer, ein französischer Historiker sowie auch Schauspieler Sean Penn zu Wort. Emotionale wie rationale Aussagen verweben sich zu einem ganzheitlichen Bild.

Ayiti Toma, The Land of the Living Zunächst wird kein bestimmter Strang deutlich. Der Regisseur führt keine stringente Erzähllinie. Vielmehr lässt er seine Zuschauer langsam begreifen, wie komplex und vielfältig die Zustände in Haiti sich entwickelt haben. Da sind die Sklaverei und ihre Folgen für die Landwirtschaft und Ökonomie des Landes. Der Aufstand von 1791 mit einem Beginn durch eine religiöse Zeremonie bei Bois Caïman, der eine umfassende Befreiung der Sklaven in Mittel- und Südamerika hätte initiieren können. Haiti als erste unabhängige Republik von Schwarzen und Mulatten kam der Sieg leider teuer zu stehen. Die Reparationszahlungen beliefen sich auf 90 Millionen Gold-Franc, was 60-65% der Wertschöpfung des Landes gleich kam. Sehen so Sieger aus? Da ist der Exodus der Intellektuellen und Geschäftsleute zu Zeiten der selbst ernannten Kaiser Jakob I und Jacques I, der ein Vakuum in der wirtschaftlichen Tätigkeit hinterließ. Die Aufteilung des Landes unter der Bevölkerung, die den Export großer Mengen an landwirtschaftlichen Produkten abschwächte. Und schließlich ein perverses System der Hilfe und Unterstützung, bei der Opferzahlen für höhere Geldflüsse bewusst erhöht werden.

Das ist noch eines wichtiges Element: Voodoo. Es sind nicht einzig Zombies aus Schwarz-weiß-Filmen des jungen Hollywoods. Es ist eine hybride Religion aus afrikanischen, islamischen, katholischen und auch indianischen Elementen, in dem neben dem Bild der Jungfrau Maria mit Kind auch bunten Flaschen, Kerzen und Fetische verschiedener Rituale Platz finden. Schätzungsweise Dreiviertel der Haitianer gehören dem Voodoo an; gleichzeitig bekennen sich ca. 90% der Bevölkerung zur katholischen Religion.

Dem Zuschauer wird ein umfangreiches Bild von Haiti, seiner Bevölkerung und der Geschichte geboten. Landschaftsbilder, Aufnahmen von Ritualen oder auch historische Abbildungen aus der Kolonialzeit und Filmaufnahmen der Diktaturzeiten. Mit jedem Gespräch scheint man den Tanz der Haitianer bei Voodoo-Ritualen ein wenig mehr zu begreifen. Es erscheint mit jeder Minute weniger befremdlich oder gar abschreckend. Die kleinen Voodoo-Stoffpuppen aus dem nächstgelegenen Landen samt Folterausrüstung weichen einem reichen Bild einer mystischen und positivistischen Religionskultur. "Why are you so fucked up; why don't you let us help you", die Antwort darauf muss man nicht mehr lange suchen.

Die Landesgeschichte wird wunderbar vor dem Zuschauer aufgerollt, sodass man schnell in den Bann von Haiti gezogen wird und mit jeder Minute mehr erfahren möchte.  

Margarethe Padysz / Wertung: * * * * * (5 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Ciné Qua Non Média (über die Seite des Filmfests Hamburg)

 
Filmdaten 
 
Ayiti Toma, The Land of the Living (Ayiti Toma, The Land of the Living) 
 
Kanada / Haiti 2013
Regie & Drehbuch: Joseph Hillel;
Produzent: Michel Ouellette; Kamera: Nicolas Canniccioni, Benoit Aquin; Musik: Jowee Omicil; Schnitt: Heidi Haines, Arto Paragamian;

Länge: 82 Minuten; deutscher Kinostart: unbekannt



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Zitat

"Die erste Frage war immer, ob ich aus dem Osten oder Westen bin. Hätte man auch googeln können."

Regisseur Wolfgang Becker (22. Juni 1954 - 12. Dezember 2024), Regisseur von "Good Bye, Lenin!", über Interviews zum Film

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