17.02.2013
Lebenserhaltungskosten

Aus dem Leben eines Schrottsammlers


Aus dem Leben eines Schrottsammlers 980 bosnische Mark. "Wo soll ich so viel Geld herbekommen?", fragt Nazif. 980 Mark sind 500 Euro und 86 Cent. Eine schwindelerregende Summe für den Familienvater (Nazif Mujic), der mit seiner Frau Senada (Senada Alimanovic) und den Töchtern Sandra (Sandra Mujic) und Semsa (Semsa Mujic) in einer heruntergekommenen Stadtrandsiedlung lebt. Die Ansammlung baufälliger Häuser entlang der von Schrott und Sperrmüll gesäumten Straße ist ein Ghetto, wenn auch der Begriff in Danis Tanovics ungeschönten Gesellschaftsbild nie fällt.

Die dort leben, sind Roma, denen selbst die staatliche Grundversorgung verwehrt ist: eine Pension, Kindergeld, eine Krankenversicherung. So auch Senada, die dringend medizinische Behandlung braucht. "Wenn Sie wollen, dass ihre Frau den Eingriff bekommt, müssen Sie bezahlen", erklärt der Arzt und zieht Nazif die Tür zum Behandlungsraum vor der Nase zu. Zahlen müssen Nazif, seine hochschwangere Frau und die kleinen Töchter, egal was sie tun: entweder mit Geld oder mit Senadas Leben. Das Kind ist in ihr gestorben. Jeder Tag steigert die Gefahr einer Sepsis. Was das Leben Senadas dem Staat Wert ist, kann Nazif am Ende auf den Rechnungen für Krankenhaus und Medikamente zusammenaddieren. Es ist eine beschämende und niederschmetternde Gleichung, deren Endsumme soziale Verantwortungslosigkeit und ein Institutionalismus bar jeder Ethik und Gewissenhaftigkeit ist. Die Endwürdigung eines Menschen durch ein Versorgungssystem, das dieser Bezeichnung grausamen Hohn spricht, enthüllt "An Episode in the Life of an Iron Picker" in quälend authentischen Bildern.

An Episode in the Life of an Iron Picker Sie stehen paradigmatisch für die Diskriminierung einer Minderheit, die wie der Titelcharakter ihren Unterhalt durch Abfall bestreiten muss, inmitten von Abfall lebt und wie solcher behandelt wird. Die dokumentarische Optik der ungeschliffenen Kameraaufnahmen ist kein Stilmittel, sondern die angemessene Entsprechung zu deren Realität. "Regisseur und Autor" steht im Presseheft hinter Tanovics Namen, obwohl es auf seinen lebensnahen Wettbewerbsbeitrag nur halb zutrifft. Es gab keinen Drehbuchautoren zu der aufrüttelnden "Episode aus dem Leben eines Eisensammlers". Wenn doch, dann war es das reale Leben der Familie Mujic. Ihre Mitglieder spielen sich nicht selbst, sie sind es schlicht. Der persönliche Erfahrungshintergrund, vor dem sie die schmerzlichen Fakten aus der Erinnerung nachstellen, verleiht dem, was bei einem fiktiven Plot Laienschauspiel wäre, die Glaubwürdigkeit des Cinema Verité. Dass dieser Kontext den Ausgang des Geschehens weitgehend absehbar macht, nimmt dem Film nichts von seiner emotionalen Unmittelbarkeit und Aktualität.

Die Protagonisten erfahren jeden Tag was es bedeutet, nicht nur am Rand der Gesellschaft zu stehen, sondern außerhalb. Mehr noch, scheinen sie aus Sicht der übrigen Bevölkerung darunter zu stehen. Aus der Teilnahmslosigkeit und sturen Formalität, mit der die schwangere Senada und ihr Mann abgewiesen werden, spricht eine fundamentale Verachtung für ihre Person und Ignoranz gegenüber ihrer Menschenwürde. Letzte entdeckt Tanovic dafür an dem Ort, wo Armut und Verwahrlosung am eklatantesten sind. Die Roma-Gemeinschaft zeigt den Unterstützungswillen und die Empathie, die jenseits des ärmlichen Außenbezirks nahezu verloren scheint. "Kein System ist inhuman, solange es gute Menschen unter uns gibt", sagt Tanovic mit hoffnungsvollem Blick auf den letzten Rest sozialen Zusammenhalts. Nach dem Ansehen seines verstörenden Dramas fällt es schwer, dem zu glauben.  

Lida Bach / Wertung: * * * * (4 von 5) 
 

Quelle der Fotos: Berlinale

 
Filmdaten 
 
Aus dem Leben eines Schrottsammlers (Epizoda u zivotu beraca zeljeza) 
 
Bosnien und Herzegowina / Frankreich / Slowenien 2013
Regie & Drehbuch: Danis Tanovic;
Darsteller: (als sie selbst:) Senada Alimanovic, Nazif Mujic, Sandra Mujic, Semsa Mujic u.a.;
Produzenten: Amra Baksic Camo, Cedomir Kolar; Produktion: SCCA/pro.ba, ASAP Films; Kamera: Erol Zubcevic; Schnitt: Timur Makarevic;

Länge: 77,45 Minuten; FSK: ohne Altersbeschränkung; ein Film im Verleih von drei-freunde; deutscher Kinostart: 10. Oktober 2013

ein Film im Wettbewerb der 63. Berlinale 2013
Silberne Bären: Großer Preis der Jury, Bester Darsteller (Nazif Mujic)



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der Film im Katalog der 63. Berlinale 2013
<17.02.2013>


Zitat

"Die erste Frage war immer, ob ich aus dem Osten oder Westen bin. Hätte man auch googeln können."

Regisseur Wolfgang Becker (22. Juni 1954 - 12. Dezember 2024), Regisseur von "Good Bye, Lenin!", über Interviews zum Film

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