5. Januar 2006 (Publikation der Rezension)
28. Oktober 2004 (deutscher Kinostart)
![Harvey im Archiv](bilder/american_splendor.jpeg)
Comics werden gemeinhin mit Superhelden und Blödeleien für
Groß und Klein in Verbindung gebracht. Ein reiferes Publikum
verweist darüber hinaus auf die graphic novel, wie Artman und
Eisner sie vertraten. Kaum jemand aber käme auf die Idee, dass
der Alltag ein interessantes Comic-Thema sein könnte – "American
Splendor" wird diese eines Besseren belehren.
"American Splendor" hat, wie viele andere Kultcomics auch, zunächst
als Untergrundcomic in den 70er Jahren angefangen. In ihm beschreibt
Harvey Pekar (Paul Giamatti) sein langweiliges und aussichtsloses,
in Vielem sehr alltägliches Leben: Als kleiner Beamter im Keller
eines von Akten überquellenden Klinikarchivs erfährt er
tagtägliche Enttäuschung, füllt seine Wohnung mit
Uraltplatten und ärgert sich an der Kasse, wenn eine alte Frau
den Betrieb aufhält. Man kann sagen: Das ganz normale Leben
mit seinen individuellen Eigenheiten. Letztere häufen sich im
Falle Pekars allerdings zum Berg an und wäre er nicht ein Griesgram
wie er im Buche steht, er hätte wohl kaum Erfolg mit der Idee
gehabt, aus seinem Leben einen Comic zu machen.
![](bilder/american_splendor2.jpeg)
Mit seiner Profanisierung des Comics und dem Leitmotiv „Bonjour
Tristesse“ erreicht Pekar die Menschen als Wolf im Schafspelz.
Zwar trifft es zu, dass er die Grenzen des Comics unter dem Credo „no
idealized, but real shit“ und „ordinary life is complex
stuff“ aufbricht, zugleich aber gaukelt er seinem gewöhnlichen
Leser vor, dieser blicke in den Spiegel des Alltags. Er verschleiert,
dass er nur die Antithese zum Helden ist, eben der Antiheld. Wo Helden
altruistisch, stark und beliebt sind, da kultiviert Pekar in fortwährendem
Selbstmitleid eigene Schwächen und schert sich einen Dreck um
die Meinung anderer. Seine Leser waren kaum auf der Suche nach dem „richtigen
Leben“, sondern gaben zum einen ihren voyeuristischen Gelüsten
nach – Reality-TV hat seine Vorläufer –, lasen zum
anderen gerne von den Abenteuern eines ausgemachten Misanthropen,
der ihnen vermutlich ähnlich real erschien wie später Garfield.
![Filmausschnitt](bilder/american_splendor3.jpeg)
Insofern ist die Verfilmung von American Splendor die kleine und
zu erwartende Enttäuschung in einem großartigen Film.
Denn natürlich wird die Mogelpackung „Wirklichkeit“ nicht
beleuchtet, sondern der Tenor „Revenge of the nerds“ angestimmt,
als wohlgefällige und ermutigende Abendbotschaft, dass auch
die Außenseiter es zu etwas bringen können. Jedoch ist
die Verpackung so unkonventionell wie überzeugend, dass man
diese Idealisierungs- und Beweihräucherungstendenzen gern übersieht.
Auf vier Handlungsebenen wird die Geschichte von Pekar erzählt:
der Original-Comic, der Spielfilm, das Theaterstück im Film
und schließlich eine alles umfassende Dokumentation, in der
die „wahren“ Personen befragt werden. So kommentiert
der noch lebende Comicautor Pekar mit grauenhafter Stimme die Filmhandlung,
in der Anfangszenen zu einem späteren Zeitpunkt als Theaterstück
und immer wieder Comicstrips zu sehen sind. Gerade die Comicelemente
bleiben nicht auf ihre kurzen Szenen beschränkt, sondern schwappen
in den Realfilm über, verweben angebliche Realität mit
ihrem Comicpendant. Das geschieht mit Hilfe sparsam eingesetzter
Computereffekte und beweist ein weiteres und seltenes Mal, dass diese
Neuerung das Kino auch weiterbringen kann.
Berücksichtigt man dazu noch die bis in die Nebenrollen passenden
Besetzungen, den in seiner Rolle ganz aufgehenden Giamatti und eine
melancholisch-heitre Musikuntermalung, so ist "American Splendor" ähnlich
wie der verwandte Film "Sideways" sicherlich eine Perle des Kinojahres 2004.
American Splendor
USA 2003
Regie: Shari Springer Berman, Bob Pulcini
Buch: Shari Springer Berman, Bob Pulcini,
Darsteller: Paul
Giamatti (Harvey Pekar), Hope Davis (Joyce Brabner), James Urbaniak
(Robert Crumb),
Judah Friedlander (Toby Radloff),
Länge: 101 Minuten (Video / DVD: 97 Minuten);
FSK: ab 6 Jahren;
ein Film im
Verleih von
Tiberius Film /
Filmwelt