19.11.2010
Was vom Leben übrig blieb

Alles, was wir geben mussten


Alles, was wir geben mussten: Ruth (Keira Knightley) und Kathy (Carey Mulligan) Das Grauen besteht vom Anbeginn und verschwindet nie. Es ist ein Teil der Welt von Kathy (Carey Mulligan), Tommy (Andrew Garfield) und Ruth (Keira Knightley). Ihre Kinderzeit verbringen die Freunde in dem entlegenen Heim Hailsham, irgendwann in den Siebzigern im ländlichen England. Nie dürfen sie Hailsham verlassen, bis sie als Jugendliche in Außenhäuser umgesiedelt werden. Nie werden sie besucht, obwohl Kathy, die selbstsicher auftretende Ruth und der verunsicherte Tommy keine Waisen sind. Langsam bröckelt die Eleganz von dem verfallenden Gebäude und mit ihr die undurchsichtige Fassade seiner Funktion. Als zeige ihr der Spiegel statt der vertrauten Welt eine fremde, erhascht zuerst die stille Beobachterin Kathy einen Blick auf die grausige Wahrheit. Nicht die Umwelt ist anders, sondern sie, die Kinder, unterscheiden sich auf fatale Weise von anderen.

Die Kühle des englischen Klimas wäscht alle Farben aus der Szenerie, das Wissen um ihr Schicksal die Freude aus dem Dasein der zu jungen Erwachsenen reifenden Kinder. Gespenstische Momentaufnahmen fangen die Relikte einer Kinderzeit ein, die tatsächlich das quälende Vorbereitungsritual einer Opferung ist. Das Drehbuch zu "Never Let Me Go" verfasste Alex Garland, dessen Roman "The Beach" in drastischen Szenen ein trügerisches Paradies dekonstruierte. In elegischen Bildern inszeniert Mark Romanek ein stilles poetisches Horrormärchen, dessen Schrecken von einem unsichtbaren Monstrum ausgeht: der Gesellschaft, der die geklonten Kinder in Hailsham als humane Organlieferanten dienen. Das Wissen um diesen Hintergrund nimmt dem bedrückenden Drama nichts von seiner geisterhaften Eindringlichkeit. Romaneks Verfilmung von Kazuo Ishiguros Roman "Never Let Me Go" ist kein Thriller. Der Schrecken manifestiert sich in der Selbstverständlichkeit, mit welcher das Entsetzliche hingenommen wird, auch von den Protagonisten.

Alles, was wir geben mussten: Filmplakat Die Wahrheit offenbart kein Schockmoment. Sie sickert als beständiges Rinnsal in das Bewusstsein der Figuren. Alle Kinder müssen getäuscht werden, wenn sie ohne Trauma aufwachsen sollen, heißt es in "Never Let Me Go": darüber, dass sie daheim sicher seien, dass nichts Schlimmes geschehen werde und dass dies immer so sein werde. Das schützende elterliche Trugbild hat sich in der entmenschlichten Filmgesellschaft zur perfiden Scheinnormalität gewandelt. Deren Tragik ist, dass die Lüge zu brüchig ist, um die Kinder zu überzeugen. Eine strenge Kälte kriecht durch die Räume, selbst in vage zärtlichen Momenten zwischen der Heimleiterin (Nathalie Richard) und den Bewohnern herrscht eine unüberwindbare Distanz. "Madam" müssen die Kinder die Direktorin nennen. Namen personalisieren, darum gibt man sie Heimtieren, aber niemals Schlachtvieh.

Als einziger internationaler Verleihtitel greift die irreführende deutsche Version "Alles, was wir geben mussten" nicht die Originalwendung auf. Was von den Jugendlichen gefordert wird, lässt sich nicht geben. Es kann nur genommen werden, entnommen, bis das Stadium erreicht ist, das in der Filmwelt "Vollendung" heißt. Der Tod der Charaktere steht fest, bevor sie geboren werden, doch ist es kein natürliches Sterben, sondern ein staatlich sanktionierter Mord. "Never Let Me Go" lautete der Titel von Ishiguros Roman. Es ist der Name einer Melodie, kein romantisches, sondern ein mütterliches Liebeslied, zu dessen Refrain sich Kathy in ihrem Zimmer wiegt..."Baby, Never Let Me Go"... bis sie die Kassette verliert, Symbol für das tröstende Konstrukt einer behüteten Kindheit, das sich auflöst. Sie steht der einzigen Erkenntnis gegenüber, die vielleicht schmerzlicher ist als jene, ein unerwünschtes Kind zu sein: das Wissen, dass sie nur zu einem einzigen barbarischen Zweck in die Welt gesetzt wurde.

Alles, was wir geben mussten: Miss Emily (Charlotte Rampling) Die Kinofassung lässt die ungreifbare Melodie, die im Buch ungreifbarer Gespenstergesang bleibt, als konventionelle Ballade erklingen. Doch nicht Verlorenes ist hier das zentrale Moment, sondern etwas nie Besessenes: Geborgenheit. Solche hintergründigen Nuancen verleihen Ishiguros Roman eine über die beängstigend wirklichkeitsnahe Gesellschaftsparabel hinausgehende Dimension, die der Adaption fehlt. Hinter der vordergründigen ethischen Thematik lauert eine zweite Erkenntnis, so schaurig, dass der Fatalismus der Jugendlichen tragischen Sinn ergibt. Die Selbstaufgabe auch am Ende von George Orwells großer Dystopie. Nicht zufällig beginnt "Never Let Me Go" in den Siebzigern. Nur ist die Terrorstimme des Staates zum Wiegenlied geworden.  

Lida Bach / Wertung: * * * * (4 von 5) 
 

Quelle der Fotos: 20th Century Fox

 
Filmdaten 
 
Alles, was wir geben mussten (Never Let Me Go) 
 
GB / USA 2010
Regie: Mark Romanek;
Darsteller: Carey Mulligan (Kathy), Andrew Garfield (Tommy), Keira Knightley (Ruth), Ella Purnell (junge Ruth), Isobel Meikle-Small (junge Kathy), Charlie Rowe (junger Tommy), Sally Hawkins (Miss Lucy), Charlotte Rampling (Miss Emily), Nathalie Richard (Madame), Andrea Riseborough (Chrissie), Domhnall Gleeson (Rodney) u.a.; Drehbuch: Alex Garland nach dem Roman von Kazuo Ishiguro; Produktion: Alex Garland, Andrew Macdonald, Allon Reich; Ausführende Produzenten: Mark Romanek, Tessa Ross; Co-Produzent: Richard Hewitt; Kamera: Adam Kimmel; Musik: Rachel Portman; Schnitt: Barney Pilling;

Länge: 104 Minuten; FSK: ab 12 Jahren; ein Film im Verleih von Twentieth Century Fox; deutscher Kinostart: 14. April 2011



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<18.11.2010>


Zitat

"Was soll das denn sein - wo du doch Schauspieler sein kannst? Da will man doch nicht Arzt werden!"

Die Reaktion der schauspielernden Eltern von Michael Verhoeven (13. Juli 1938 - 22. April 2024) auf seinen Wunsch, Medizin zu studieren - er wurde Regisseur ("o.k.", "Die weiße Rose"), Schauspieler ("Das fliegende Klassenzimmer" (1954), "Der Pauker") und Arzt

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